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1. Petrus 1,3-9: Qualitätserfahrungen

Historisch-kritische Hinweise


Der erste Petrusbrief (1 Petr) gehört zu den sogenannten katholischen Briefen. Mit dieser Bezeichnung wollte Eusebius (ca. 264-340) zum Ausdruck bringen, dass diese an die gesamte Christenheit gerichtet seien (griech. katholikó, „allgemein“). Der Brief ist ein Rundschreiben, das ein Bote von Gemeinde zu Gemeinde brachte (vgl. Schweizer, 13f.).
Obwohl der Apostel Petrus als Verfasser genannt wird, handelt es sich beim 1 Petr um ein pseudoepigraphes Schreiben. Dafür spricht vor allem die Tatsache, dass die im Brief erwähnten historischen Zusammenhänge für die Zeit vor dem Tod des Petrus nicht belegbar sind. Über den Autor wissen wir nur, dass er die literarische Koine beherrschte1 und theologisch in großer Nähe zu den Paulusbriefen stand.
Die Adressaten des 1 Petr sind in der Diaspora lebenden Heidenchristen, welche als die „auserwählten Fremdlinge“ (1,1) bezeichnet werden. Sie befinden sich unter einer behördlichen Verfolgung und werden als „Übeltäter“ verleumdet (vgl. 2,12; 3,16). Dieser zeitgeschichtliche Hintergrund lässt eine Datierung in die Zeit der Kaiser Domitian (81-96) oder Trajan (98-117) zu und Kleinasien als den Abfassungsort vermuten.
Unsere Perikope (1,3-9) gehört in den zweiten Teil des Briefanfangs, das Proömium (1,3-12). Sie erinnert die Adressaten an die lebendige Hoffnung, welche Freude schenkt, durch das Leid trägt und zum Heil führt.

Assoziationen und Motive für die Predigt


„Was haben Sie davon, dass Sie an Gott glauben?“ – Diese Frage stellt man mir immer wieder. Und ich stelle sie mir selbst auch, obwohl ich weiß, dass man mich schnell einer Verzweckung Gottes verdächtigen kann. Meine Antwort lautet: Lebensqualität. Durch Gott gewinnt mein Leben an Tiefe und Substanz, die es ohne ihn nicht hätte. Somit stellen auch die drei von mir hervorgehobenen Schwerpunkte des Predigttextes vor allem Qualitätsbegriffe dar.


Qualität entspringt der Sphäre der Unverfügbarkeit, weil sie zwar erfahrbar, jedoch nicht messbar ist. Doch ohne sie gäbe es weder die beglückenden Erlebnisse der Kunst noch die offenbarenden Erlebnisse unserer Lebenswelt. Mit der Qualitätsdimension der Wirklichkeit ist es wie mit der Kunst: Sie entzieht sich im Vergleich zum Kitsch jeglicher plakativen Eindeutigkeit. Ihr schillernder Charakter, in dem auch die Dunkelheiten des Lebens beigemischt sind, macht sie so anziehend, dass unser Blick von ihr nicht loskommt. Und je mehr man schaut, desto mehr entdeckt man. Die größten Werke der Kunst haben diesen zeitlos offenbarenden Charakter. Ihre Tiefe wird mit der noch so intensiven Beschäftigung immer unerreichbarer; sie sind uns also immer voraus. Somit entzieht die Qualität unser Leben der Banalität und führt uns in die Tiefen der Existenz, in denen die Begegnung mit Gott möglich ist.
Hoffnung als Qualitätsphänomen. Gerade in der letzten Zeit ist die Hoffnung wieder einmal Gegenstand des öffentlichen Diskurses. Unsere unbekümmerte und naive Gewissheit eines unbeschwerten Weiter-so verwandelt sich angesichts der beängstigenden Weltlage in Furcht. Hier hilft kein billiger Optimismus. Denn Optimismus blendet die Negativitäten des Lebens aus, führt mit aller Gewalt die Illusion eines Happy-End herbei. Er versucht also, die Zukunft verfügbar zu machen. Die Hoffnung hingegen, das Kind der Göttin der Nacht (Nyx), wird aus der Dunkelheit geboren. Für sie ist die Negativität konstitutiv, sie verdrängt und verblendet nicht, sondern sie weitet den Blick über den Horizont des vermeintlich Möglichen hinaus auf das Unverfügbare. Sie manipuliert nicht mit Durchhalteparolen, sondern öffnet sich auf das hin, was höher ist als unsere Vernunft und was sich unserer Macht entzieht. Sie heilt sowohl vom falschen Optimismus als auch von der lähmenden Angst, dieser so beliebten Herrschaftsmittel. Menschen, die hoffen, sind Realisten, die sich weder Illusionen noch Verzweiflung hergeben.


Freude ist das Gegenteil von Spaß. Auch hier geht es um ein Qualitätsphänomen. Der Spaß steht für das Oberflächliche eines Erlebens, bei dem man – wie beim Optimismus – alles Negative ausblendet. Die Freude hingegen markiert die Tiefe der Existenz, in der der Mensch nicht den Blick von den Dunkelheiten abwendet, sondern sich gerade deswegen der Kostbarkeit der lichten Momente bewusst wird, wann auch immer ihm diese zuteilwerden. Die Freude kann von solcher Intensität sein, dass sie sogar als unaussprechlich (vgl. 1,8) bezeichnet wird.


Leiden als Konsequenz der christlichen Existenz. „Der Brief ist mit dem Thema »Leiden« (páschein) befaßt, um den Adressaten darin theologische (genauer: christologische) Orientierung und damit die Bewältigungsmöglichkeit zu zeigen. »Leiden« ist dabei jedenfalls der Begriff für negative Erfahrungen von Mißtrauen, Verdächtigung, Haß, Feindseligkeit, Aggression, die die Christen sich darum, weil sie Christen sind, von nichtchristlichen Zeitgenossen zuziehen“ (Brox, 24). „Die Situation, an die der Verfasser mit Sicherheit denkt, ist die bis zur Feindschaft gesteigerte Entfremdung zwischen Nichtchristen und Christen aufgrund der verschiedenen Verhaltensweisen bzw. des neuen Lebensstils der Christen“ (Brox, 29). Der christliche Glaube ist ein Gegenentwurf, der die angesagten Lebensentwürfe dieser Welt radikal in Frage stellt, und somit Widerstand und Feindseligkeit auf sich zieht.


Seele – der Empfangsort der Qualität. Im Zuge des Säkularisierungsprozesses ist zusammen mit Gott und der Transzendenz auch die Seele in den Verruf der Irrealität geraten. Vielleicht verzeichnen wir aber gerade wegen dieser materialistischen Verleugnung der Seele einen regelrechten Boom an psychischen Krankheiten, der die vorhandenen therapeutischen Kapazitäten mehrfach übersteigt. Der Mensch, welcher mit Stolz allem, was nur annähernd mit Gottesglauben zu tun hat, entsagt und sich selbst für den Macher seines Lebens erklärt, gerät plötzlich in eine nie geahnte Seelennot. Er droht, sich selbst bis zur Unkenntlichkeit zu entfremden und zu verlieren. Nun versucht er verzweifelt, seine Seele zu retten, um sich selbst nicht gänzlich abhanden zu kommen. Unzählige Werke suchen die Antwort auf die Frage, was die Seele sei. Der Antwortvorschlag, den ich hier anbieten möchte, ist: Die Seele ist der Ort der Gottesbegegnung, der Ort unserer Transzendenzempfänglichkeit. Nur da, wo die Seele noch nicht gänzlich abgestumpft wurde, kann so etwas wie Seligkeit empfunden werden, ist der Mensch noch fähig, Qualität zu vernehmen. Laut unserem Predigttext ist es der Glaube, welcher die Lebendigkeit der Seele garantiert. Was bedeutet das in das heutige Denken übersetzt? Ich würde von einer Vertröstung auf Jenseits absehen und stattdessen von der Möglichkeit einer ungeahnten Lebensqualität sprechen. Vom Glück, zu sich selbst zu finden, von der Gnade, trotz allem Bösen ein menschlicher Mensch zu bleiben. Durch den Glauben als die Anbindung an die Quelle aller Lebendigkeit bleiben wir trotz allem lebendige Menschen. Durch den Glauben wird uns etwas geschenkt, was durch nichts tot zu kriegen ist, und somit auch die Möglichkeit, die Auferweckung zu schmecken und wie neugeborene Kinder (quasi modo geniti infantes) zu leben.

 


1 Ist „doch von dem Fischer Petrus nicht zu erwarten, dass er in einem so guten, fast literarischen Griechisch schreibt, das besser ist als in den meisten übrigen Schriften des Neuen Testamentes. Vor allem aber lebt der Verfasser unseres Briefes stark in der griechischen Übersetzung des Alten Testamentes, während wir bei Petrus Anklänge an den hebräischen Urtext […] finden müssten“ (Schweizer, 9)

Lied-Empfehlungen:
Jesus lebt, mit ihm auch ich! (EG 115).
Kleines Senfkorn Hoffnung (Text: Alois Albrecht; Melodie: Ludger Edelkötter).2
Meine Hoffnung und meine Freude (Text: Taizé nach Jesaja 12,2; Melodie: Jacques Berthier).3


Zitierte Literatur:
-
Norbert Brox, Der erste Petrusbrief (Evangelisch-Katholischer Kommentar zum Neuen Testament, Bd. XXI), Zürich / Neukirchen-Vluyn (1979) 41993.
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Eduard Schweizer, Der erste Petrusbrief (Züricher Bibelkommentare), Zürich (1949) 31972.
Zudem verwendete Literatur:
-
Reinhard Feldmeier, Der erste Brief des Petrus (Theologischer Handkommentar zum Neuen Testament, Bd. 15/I), Leipzig 2005.
-
Byung-Chul Han, Der Geist der Hoffnung. Wider die Gesellschaft der Angst, Berlin 2024.
-
Hartmut von Sass, Außer sich sein. Hoffnung und ein neues Format der Theologie, Tübingen 2023.

 

Veröffentlicht in: 

AUFTRAG UND WAHRHEIT
Ökumenische Quartalsschrift für Predigt, Liturgie und Theologie
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