


Dr. theol. Katarína Kristinová
Dr. theol. Katarína Kristinová
Gnade sei mit euch
und Friede von Gott, unserem Vater,
und dem Herrn Jesus Christus. Amen.
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Liebe Gemeinde,
heute geht es um die Weisheit. Ein Wort, das man heute kaum mehr benutzt. Klug, clever,
intelligent, schlau, smart – das sind die Prädikate der heutigen Zeit. Aber weise? Da denken wir
wohl eher an die Weisen aus dem Morgenland, an die alten Rabbiner, an Buddha, oder an
Dostojewskijs Starez. Weisheit ist ein Wort, dass wir heute nicht mehr so schnell in den Mund
nehmen, ein Wort, das eher den fernen Zeiten vorbehalten bleibt, oder fernen Völkern, deren
Weisen, die als Prophetinnen oder Schamanen gelten, in ihrer Einsiedelei sitzend Besuche von nach
dem Sinn suchenden Menschen empfangen.
Wir befragen eher die Therapeutinnen, blättern in der die Regale füllenden Ratgeber-Literatur,
hören uns Fernsehinterviews mit den sogenannten Experten an, lassen uns „coachen“ oder
konsultieren Google. – Übrigens habe ich schnell bei Google nachgeschaut, welchen Artikel das
Wort „Google“ hat, und damit für einige Verwirrung gesorgt. Bekanntlich besteht Google aus lauter
Artikeln zu nahezu allen Themen, doch die Frage nach dem eigenen grammatikalischen Artikel
konnte mir dieses Orakel der Postmoderne nicht beantworten.
Nicht Weisheit, sondern Wissen scheint in der heutigen Zeit angesagt zu sein. Ich würde mal
spontan diagnostizieren: Je weniger Weisheit, desto mehr Wissen. Wir stellen es unter Beweis in
den unzähligen Quizshows, indem wir Fragen zu beantworten versuchen wie z. B.: Wie viele
Oscars gewann der Film „Titanic“? Wie viele Atemzüge nimmt der menschliche Körper täglich?
Aus wie vielen Kräutern ist Jägermeister gemacht? Bei welchem Wert liegt der Weltrekord im
Dauerjodeln?
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Die Weisheit im ursprünglichen Sinne ist wohl doch etwas anderes als das. Aber was ist die
Weisheit? Welche Menschen wären als weise zu bezeichnen? Lassen Sie uns nun gemeinsam einer
Antwort auf diese Frage nach-denken. Ich weiß aus Erfahrung, dass man gerade den geistigen
Phänomenen besser auf die Spur kommt, wenn man sich mit deren Gegenteil beschäftigt. Als das
Gegenteil der Weisheit wird in der Bibel die Torheit genannt, die auch mit Dummheit übersetzt
werden kann.
So blätterte ich nach längerer Zeit wieder einmal in den vielen Büchern, die sich mit dem
Phänomen der Dummheit, deren Struktur und Geschichte beschäftigen. Ich rief mir in Erinnerung,
dass u.a. der große Theologe des 20. Jahrhunderts, Karl Barth, die Dummheit als einen zentralen
Aspekt der Sünde bezeichnet. Auch die scharfsinnige Beschreibung Dietrich Bonhoeffers kam mir
in den Sinn. Bonhoeffer hebt hervor, dass Dummheit keinen intellektuellen, sondern einen
menschlichen Defekt darstellt, und konstatiert treffend, dass wir gegenüber der Dummheit machtlos
sind: „Dummheit ist ein gefährlicherer Feind des Guten als Bosheit“, schreibt er. „Gegen das Böse
lässt sich protestieren, es lässt sich bloßstellen, es lässt sich notfalls mit Gewalt verhindern […].
Gegen die Dummheit sind wir wehrlos. Weder mit Protesten noch durch Gewalt lässt sich hier
etwas ausrichten; Gründe verfangen nicht; Tatsachen, die dem eigenen Vorurteil widersprechen,
brauchen einfach nicht geglaubt zu werden […]. Daher ist dem Dummen gegenüber mehr Vorsicht
geboten als gegenüber dem Bösen“ (Widerstand und Ergebung, DBW 8, S. 26 ff.).
Dummheit hat offenbar weder etwas mit dem Bildungsstand noch etwas mit dem Mangel an
logischem Denken zu tun. Ihr Träger kann sich sogar mit einem Professorentitel schmücken und
eine perverse innere Logik entwickeln, gegen die man selbst mit den schlüssigsten Argumenten
nicht ankommt. Diese innere Logik der Dummheit demonstriert vorzüglich folgender Witz:
Wussten Sie, dass sich die Elefanten gerne auf den Bäumen verstecken? - So ein Quatsch, sagen
Sie. Noch nie hat jemand einen Elefanten auf einem Baum gesehen. - Na sehen Sie, wie gut sie sich
verstecken können – lautet dann die siegreiche Antwort.
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Die für mich treffendste Definition der Dummheit liefert der große Philosoph des Mittelalters
Nikolas von Kues. Die Dummheit ist seiner Auffassung nach nichts anderes als Unbelehrbarkeit –
also die Weigerung, sich auf eine neue Perspektive einzulassen, sich durch deren Hilfe in der
eigenen Denkweise korrigieren zu lassen und in diesem Sinne also dazu zu lernen.
Und wenn alle Philosophie und alle Weisheit mit Staunen beginnt, dann ist auch der Ausdruck des
katholischen Theologen Johann Baptist Metz absolut zutreffend: Er spricht im Zusammenhang mit
Dummheit von der sogenannten Verblüffungsfestigkeit. Unbelehrbarkeit und Verblüffungsfestigkeit
sind damit nichts anderes als Bildungsferne bzw. Bildungsverweigerung.
Das Perfide an der Dummheit ist zudem, dass sie sich gerne als ihr Gegenteil ausgibt, dass sie sich
als Weisheit und Klugheit präsentiert. Sie imponiert gerne mit dem Kompetenzgehabe, sie
schüchtert ein mit verschachtelten Sätzen voller Fachtermini, demonstriert absolute Selbstsicherheit
und Überlegenheit, ihre Waffen sind Behauptungen, und ganz gleich, mit welchen Fragen man
konfrontiert wird, die Antwort steht schon längst fest. Auf den Punkt gebracht: Die Dummheit lebt
von der Aura der Weisheit, also vom puren Schein. Das Tragische ist, dass ihr dieses
Täuschungsmanöver meistens gelingt. Dieses Weisheitsgehabe der Dummheit wirkt leider bei viel
zu vielen. Nur Kinder, sogenannte Narren und die wenigen Weisen unter uns bleiben hier
unbeeindruckt. Nur sie zeigen sich immun gegen die teuflische Faszination der vermeintlichen
Tiefgründigkeit, und es ist dieses ihr Unbeeindruckt-Sein, welches das ganze Kartenhaus zum
Einstürzen bringen kann. Dann offenbart sich die vermeintliche Weisheit als nicht weiter zu
beachtende Banalität, die vermeintlich heilige Wahrheit als durchschaubare Ideologie, das Pathos
der Tiefgründigkeit als eine schlechte Inszenierung, und die selbsterklärten Kaiser dieser Welt
zeigen sich nackt.
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Nun - nachdem wir uns auf der Suche nach der Weisheit ausgiebig mit deren Gegenteil beschäftigt
haben, werden uns hoffentlich die Worte des heutigen Predigttextes umso mehr einleuchten. Im
zweiten Kapitel seines ersten Briefes an die christliche Gemeinde in Korinth schreibt der Apostel
Paulus:
1 Und als ich zu euch kam, Brüder, kam ich nicht mit überragender Rede oder Weisheit, als
ich euch das Geheimnis Gottes verkündete.
2 Denn ich nahm mir vor, unter euch nichts zu wissen außer Jesus Christus und diesen als
Gekreuzigten.
3 Und ich trat in Schwachheit und in Furcht und mit viel Zittern bei euch auf,
4 und mein Wort und meine Verkündigung bestand nicht in überredenden Weisheitsworten,
sondern im Erweis von Geist und Kraft,
5 damit euer Glaube nicht auf Weisheit von Menschen beruhe, sondern auf der Kraft Gottes.
(Übersetzung: Erich Fascher, Der erste Brief des Paulus an die Korinther, 1. Teil, ThHNT 7/1, S. 113).
Paulus, der gebildete hellenistische Jude, dem sowohl die Grundlagen der zeitgenössischen
Philosophie als auch der Rhetorik, also der Kunst der öffentlichen Rede, bekannt waren, hat das
Phänomen der vermeintlichen Weisheit durchschaut und sich bewusst entschieden, ganz anders
aufzutreten, als es auch zu seiner Zeit üblich war: nicht „mit überragender Rede“, nicht mit
überredenden Weisheitsworten, sondern „in Schwachheit und in Furcht und mit viel Zittern.“ Er hat
sich entschieden, bewusst auf die Inszenierung der vermeintlichen Weisheit zu verzichten.
Mit anderen Worten: Er wollte im Gegensatz zu den Weisheitslehrern seiner Zeit keinen Eindruck
schinden, sondern darauf vertrauen, dass die Sache, für die er hier eintritt, für sich selbst spricht.
Und mehr noch: Ihm war auch sehr wohl bewusst, dass die Botschaft nicht nur darin besteht, WAS
wir sagen, sondern auch WIE wir das sagen.
Und darin zeigt sich die wahre Weisheit: Sie ist bescheiden, sie muss nicht auf eine effektvolle
Verpackung setzen, denn sie hat genug Substanz, die für sich spricht. Auch weiß sie um die eigenen
Schwachpunkte, denn nur durch deren Korrektur kann sie der Wahrheit näherkommen.
Bescheidenheit, Fragen, leise Töne und Dialog – das sind ihre Mittel.
So steht die inhaltliche Klarheit gegen die rhetorische Effekthascherei, die Redlichkeit gegen die
ideologische Selbstherrlichkeit, die respektvolle Gesprächsbereitschaft gegen die behauptende
Gewalt, das authentische Auftreten gegen den Schein der Perfektion, das Wunder der
Wahrhaftigkeit gegen das plumpe Spektakel der vermeintlich einzig wahren Wahrheit.
Paulus stellt hier so etwas wie eine Faustregel auf, nach der die Weisheit von deren Gegenteil
unterschieden werden kann. Und diese Faustregel funktioniert perfekt auch noch heute. Versuchen
Sie, sich vor diesem Hintergrund eine politische Diskussion im Fernsehen anzuschauen, einer
Predigt kritisch zuzuhören, oder beobachten Sie mal die Gespräche in ihrem privaten Umfeld.
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Und nun das Wichtigste zum Schluss. Paulus betont: „Ich nahm mir vor, unter euch nichts zu
wissen außer Jesus Christus und diesen als Gekreuzigten.“ Jesus, und zwar ausdrücklich Jesus
als der Gekreuzigte, ist für Paulus nicht nur ein Zusatz zu dem, was er über die Weisheit zu sagen
hat, sondern offenbar das Fundament, auf dem seine Weisheitstheorie beruht.
Aber was bedeutet das? Was hat die Weisheit mit dem Gekreuzigten zu tun? Die Satirikerin Sarah
Bosetti hat einmal gesagt, es wäre schön, wenn jeder, der ein politisches Programm verkündet, für
mindestens einen Tag tauschen müsste mit derjenigen Person, welche durch eben dieses Programm
benachteiligt wird.
Also, der Neonazi tauscht für einen Tag mit einem Ausländer; diejenige Person, welche sich gegen
die Aufnahme von Flüchtlingen ausspricht, tauscht für einen Tag mit einem der Flüchtlinge an der
polnischen Grenze; Präsident Erdogan tauscht mit einer von ihm ins Gefängnis geworfenen
Journalistin, ein Macho und Chauvinist mit einer Frau – am besten mit seiner Frau; und so weiter
und so fort.
Das, worauf sich der christliche Glaube gründet, ist auch so ein Tausch. Gott tauschte mit einem,
der im Namen Gottes gekreuzigt wurde. Gott ist in diesem Sinne Mensch geworden. Und zeigte den
Menschen: Im Namen Gottes habt ihr Gott selbst gekreuzigt. Denn: Er ist anders, als Ihr ihn haben
möchtet. Er steht nicht auf der Seite der Sieger, sondern auf der Seite derer, die in seinem Namen
gekreuzigt werden. Er ist der Gott derer, die auf dem Altar eurer heiligen Wahrheiten geopfert
werden. Und der Gekreuzigte ist der Prüfstein dieser Wahrheit, ja, jeder Wahrheit. Deswegen sieht
die apokalyptische Literatur den Gekreuzigten als den Richter, vor dem sich am Ende aller Zeiten
alle, ja, auch alle Herrscher dieser Welt zu verantworten haben. Das ist eine starke Vorstellung.
Die Perspektive Gottes ist durch den Gekreuzigten die Perspektive der Opfer. Darin besteht die
Weisheit Gottes, die die Weisheiten dieser Welt nicht aufhört zu stören, zu prüfen, radikal in Frage
zu stellen, solange es die Welt gibt. Dieser Weisheit Gottes möchte ich uns heute anbefehlen in der
Hoffnung, dass Gott in Jesus, dem Gekreuzigten, trotz aller Gewalten dieser Welt doch schließlich
und letztgültig das letzte Wort behält.
Amen.