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Reflexionen


Ich habe nicht auf jede Frage eine Antwort.

Ich langweile mich nicht mit den Kindern.

Ich meide Pausen-Smaltalk.​

Ich halte Spielen für lebenswichtig.

Ich hinterfrage stets meine Pädagogik.

Ich befinde mich viel zu oft im Konflikt zwischen Regeln und der Würde des Person.

Ich denke, es kann nicht nur zu spät, sondern manchmal auch zu früh sein für ein bestimmtes Gottesbild.

Mit Gott ist es manchmal so wie mit der Liebe. Ein ganzes Gedicht spricht nur über sie, ohne dass in ihm das Wort Liebe fällt.

Das Merkmal einer guten Schule: glückliche Kinder.

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NOTIZEN VON DER FRONT

21. 01.2022, Musikunterricht in einer 6. Klasse einer Berliner GS

Ich bin vorbereitet. Ich bin gut vorbereitet. Ich vertrete eine kranke Kollegin in einem mir halbwegs fremden Fach. Als ich es gestern erfahren habe, ging es mit der Vorbereitung bereits auf dem Heimweg von Schule los. Der Digitaltechnik sei Dank. Ich erstelle eine Playlist mit dem Titel „Musikunterricht“. Sie ist voller Töne, Klänge und Geräusche zum Raten (das wird den Kindern Spaß machen, denke ich). Zu Hause erstelle ich eine Datei mit Bildern von Musikinstrumenten, nach deren Namen ich dann fragen werde. Meine Lieblingskompositionen zu jedem der Instrumente sind auch auf der Playlist. Und eine Kopiervorlage zum Ausmalen für die Unruhigen. Und zwei wunderschöne Filme zum Thema werden auch mit eingepackt, falls noch Zeit übrigbleibt. Der Smartphone und die Musikbox werden aufgeladen, um Mitternacht lege ich mich ins Bett mit einem guten Gefühl.


Am nächsten Tag fällt mein Zug aus. Anschließend verspätet sich der erste Busanschluss. Ich komme nicht zu spät, aber spät genug, um mich in Ruhe vorzubereiten. Meine Periode ist da. Ich blute stark und habe Schmerzen, die durch die vor einem Tag erfolgte Booster Impfung noch stärker zu sein scheinen. Ich muss kalkulieren: Wenn ich jetzt aufs Klo gehe, schaffe ich nicht, noch zu kopieren. Aber: Wenn ich nicht aufs Klo gehe, kann ich es erst nach 2, 5 Stunden tun. Ok. Ich gehe vor. - sage ich mir den Satz, den ich so oft im Stress des Schulalltags vergesse. Ich gehe vor. Meine Gesundheit geht vor. Meine Nerven gehen vor. Und dann alles andere. Denn sonst bin ich für jede Schule nur eine Belastung.


Die erste Doppelstunde Musik in der vierten Klasse läuft besser als gedacht. Meine „hippelligen und zappeligen“ Kinder sind keine Ignoranten: Sie spüren die Musik, sie genießen sie, sie lassen sich von ihr berühren. Es gibt klassische Kompositionen, die sie bereits lieben. Das beeindruckt mich und macht mir Hoffnung.


Die nächste – nur eine! – Stunde in der sechsten Klasse wird Dank meines bunten Programms wohl auch gut machbar sein. Wenn sie sich darauf einlassen, werden sie sich nicht langweilen - denke ich. Denn, dass sich Kinder in der Schule langweilen, ist für mich eine tragische Tatsache, die ich zumindest in meinem Unterricht mit allen Mitteln vermeiden will. Ich will, ich wünsche mir vom ganzen Herzen, dass sie eine erfüllte Zeit erleben, ja, sogar Glücksmomente, in denen sie die Zeit vergessen, dass sie inspiriert werden, und mit neuen Gedanken nach Hause gehen, die sie dann weiter beschäftigen. Ich will, dass sie neugierig, bildungshungrig und stets offen auf Neues hin bleiben – denn nur so wird man zu einem wirklich glücklichen Menschen.

Ich bin also motiviert. Die sechste Klasse scheint auch nicht ganz unmotiviert zu sein. Bis auf zwei Jungs. Die demonstrieren von der ersten Sekunde an lautstark ihre Verweigerungshaltung. Und die traurige Wahrheit dieser Welt ist, die lautstarke Minderheit übertönt die ruhige Mehrheit.


Mir wird klar, bevor ich mit dem Unterricht beginne, muss ich erst mal die Bedingungen dafür schaffen, dass hier ein Unterricht überhaupt möglich ist. - Auch eine traurige und lästige schulische Realität.

Die beiden junge Herren sind mir bereits bekannt. Der eine u.a. wegen Sachbeschädigung und wiederholten massiven Störungen, der andere wegen seiner Vorliebe, schmutzige und eisharte Schneebälle im Gesicht seiner Mitschülerinnen auszudrücken. Beide wissen um meine konsequente Haltung und mögen mich nicht.


Der Kampf um die Deutungshoheit im Unterricht beginnt. Ich spreche die Schüler an und bitte sie um Ruhe. Mir wird jeder angefangene Satz lautstark bereits nach einigen Wörtern abgeschnitten. Ich werde heruntergeputzt, wie ein kleines schmutziges Kind. Ich weiß nun, es ist kritisch, meine Autorität steht auf dem Spiel. Die Schulleiterin wird von mir gebeten, kurz mit rein zu kommen. Für diese kurze Zeit herrscht in der Störerfraktion Ruhe.

Sobald die Schulleiterin die Klasse verlässt, geht das Spiel ungestört weiter. Ich werde mitten in meiner Rede abgeschnitten, oder es werden Parallelkommentare abgegeben, die Fragen der anderen SchülerInnen an mich, werden lautstark von den beiden Störern beantwortet. Die Zeit rennt, und die geduldige Mehrheit hat immer noch nichts von dem Musikunterricht geboten bekommen.


Als ich zum gefühlt zwanzigsten Mal „Könntest Du bitte...“ in Richtung des einen sage, blökt er mir wieder eine Protestparole ins Gesicht. Also versuche ich lauter zu werden als er: Halt endlich die Klappe. - Schreien ist so anstrengend. Und es liegt nicht in meiner Natur. Ich bin eine Sängerin. Und jedes mal, wenn ich schreien muss, tut es mir leid um meine Stimme.


Ich fordere ihn auf, den Raum zu verlassen, woraufhin er wieder laut protestiert. Ich versuche ihn am Ärmel seiner Kleidung zu packen und führe ihn aus dem Raum auf den Flur, wo ein Tisch ist. Da sitzt ja auch schon einer. Ein wohlbekannter Gesicht aus der vierten Klasse, der wirklich riesige Probleme mit der Konzentration hat, und dessen Qualen mir schon irgendwie leid tun. Nun setzt sich mein Kandidat zu ihm und ich sage ihm noch: Hier kannst du dich etwas beruhigen, und ich hole dich dann später wieder herein. Er nickt.


Zurück in der Klasse meldet sich die beherzte Klassensprecherin und wirft mir vor, den Betroffenen beleidigt und angefasst zu haben. „Ja, und das dürfen Sie nicht!“ - stimmt der zweite Störer mit ein. „Halt die Klappe“ sei eine Beleidigung – belehrt mich die Klassensprecherin selbstsicher. Das muss ich nachrecherchieren – nehme ich mir vor. Aber was das Anfassen betrifft, weiß ich aus mehreren Quellen, dass es in extremen Situation, in denen die Lehrkraft die Verantwortung für die Struktur des Unterrichts trägt, hinnehmbar ist, einen störenden Schüler mit einem sanften Nachdruck aus der Klasse hinauszubegleiten. Dabei soll man möglichst die Kleidung und nicht den Körper des Betreffenden zu fassen versuchen, was allerdings nicht immer gelingt.


Unterwegs nach Hause recherchiere ich dann im Zusammenhang mit der angeblichen Beleidigung. Ich schreibe einen Fachmann an:

Sehr geehrter Herr ...! Darf ich Ihnen auch außerhalb einer Fortbildung eine Frage stellen?

Gilt "halt die Klappe " im schulischen Kontext als Beleidigung? Ich hoffe, dass Sie so freundlich sind und mir kurz antworten könnten. Sie können sich ja sicher denken, dass ich mich gerade in einer gewissen Not befinde. Herzlichen Dank im voraus! K.

Der renommierte Schulrechtler beantwortet meine Frage umgehend und charmant.

Liebe Frau Kristinova,

es kommt darauf an, zu wem Sie das gesagt haben!

Wenn Sie den Schulleiter oder den Schulaufsichtsbeamten so angefahren haben,

könnte dies sogar ein Kündigungsgrund sein.

Wenn Sie dies in einer entsprechenden Situation zu einem Schüler gesagt

haben, dürfte dies hinnehmbar sein, zumal ein Schüler diese Botschaft

besser versteht als eine ausgeklügelte/intellektuelle Formulierung.


Aber noch bin ich nicht zuhause. Noch ist die Stunde nicht vorbei. Noch versuche ich, zu unterrichten. Und die Störer, die mittlerweile wieder in trauter Zweisamkeit am Tisch sitzen, soweit es geht, zu ignorieren. Sie spielen ihr Parallelprogramm zum Unterricht weiter. Blöcken in unsere Gespräche absichtlich falsche Antworten, melden sich, um dann, wenn sie aufgerufen werden, die Antwort zu verweigern, führen Parallelmonologe zu meiner Rede.


Ich bin schweißgebadet, versuche meine seelischen Kräfte beisammen zu halten, denn zwei Unterrichtsstunden stehen mir noch bevor. Doch auch nach den letzten Stunden ist die Sache noch nicht überstanden. Mir wird berichtet, in der kurzen Zeit hat die Schulleiterin schon Gespräche mit dem aufgebrachten Eltern der betreffenden Schüler führen müssen, die offenbar umgehend informiert wurden. Ich soll ein Protokoll anfertigen, mich mit der Klassenlehrerin in Verbindung setzen und sowohl meine Wortwahl als auch meine Handlung in Ruhe überdenken, und beides die nächsten Male versuchen, zu vermeiden.


Nun überdenke ich gerade, anstatt mein Wochenende zu genießen, so wie ich auch in der Nacht überdacht habe, anstatt zu schlafen. Ich habe in einer Stresssituation eine pädagogische Entscheidung getroffen. Eine Entscheidung für den Unterricht, eine Entscheidung für diejenigen SchülerInnen, welche das Recht auf Bildung haben, und welche es verdient haben, eine interessante Stunde zu erleben.


Ich weiß, ich hätte es mir auch einfacher machen können. Ich hätte mir sagen können, auch jetzt verdienst du dein Geld, Katarina. Lass sie labern, die Stunde ist ja bald vorbei. - Aber mein Verantwortungsgefühl gegenüber den Interessierten lässt sich selbst nach Jahren voller Stress und Enttäuschungen einfach nicht abstellen. Und das auch dann nicht, wenn sich selbst diejenigen, für die ich kämpfe, mit altkluger Regeltreue gegen mich wenden und mir Beleidigungen und Gewaltbereitschaft vorwerfen.


Und ja, ich weiß, ich hätte den Konflikt selbst zum Thema der Stunde machen können und ihn dann quasi pädagogisch reflektiert im Dialog mit der Klasse austragen. Nur habe ich schon einmal erlebt, wie es im Falle derselben Schüler eine Kollegin versuchte, indem sie eine ganze Stunde umwidmete. Leider war der erwartete Erfolg gleich Null. Und ich ahne, dass es bei Weitem nicht der erste Versuch dieser Art war.


Also nein, das wollte ich auch nicht. Es widerstrebt meinem pädagogischen Selbstverständnis zutiefst, stets zusehen zu müssen, wie die interessierten und motivierten SchülerInnen immer wieder als Kollateralschaden für einen durch die laute Minderheit zerstörten Unterricht herhalten müssen. Mir tut es auch weh, wenn ich sehe, wie die ruhigen – in der Regel Mädchen – durch die Sitzordnung als Pufferzonen der Gewalt funktionalisiert werden, indem man sie dann eben strategisch zu einem schwierigen Schüler setzt. Ich möchte nicht, dass das Verständnis für die sogenannten Schwierigen auf Kosten der sogenannten guten SchülerInnen artikuliert und handelnd umgesetzt wird.


Ja, die Schwierigen brauchen eine gezielte Hilfe, aber die Stillen, Unauffälligen und Pflegeleichten auch! Ich sehe sie seit Jahren schon leiden, resignieren, sich den brummenden Schädel festhaltend inmitten der tobenden Klasse still leidend sitzen, sich enttäuscht zurückziehen, wenn sie wieder mal nicht zu Wort kommen, obwohl, nein: weil! sie sich an die Regeln gehalten und sich still gemeldet haben, während sich die anderen einfach wieder vorgedrängelt haben. Ich möchte mehr Raum für diese sogenannten guten SchülerInnen. Ich möchte, dass die Schule nicht und nie zu dem Ort wird, an dem der Stärkere, Lautere oder Unverschämtere gewinnt. Das mag für die übrige Lebensrealität so stimmen, aber in meinem Unterricht lasse ich es nicht zu.


Doch während ich das hier schreibe, werde ich mir wieder auch dessen bewusst, dass meine Kräfte schwinden, meine Gesundheit nachlässt und ich schon seit geraumer Zeit parallel Jobangebote studiere. So wird es früher oder später kommen: Das System Schule verliert eine weitere gute, motivierte und in jeglicher Hinsicht kompetente Lehrerin. Wie viele müssen denn noch ausgebrannt und resigniert und krank gehen, bevor sich hier generell etwas ändert? Oder finden sich immer neue, frische, unverbrauchte Kräfte, die das Hamsterrad verschluckt, bis es sie später verheizt wieder ausspuckt? Oder wird das System einmal gänzlich kollabieren? - Ich weiß es nicht. Aber auch hier gilt für mich mittlerweile der Satz, mit dem ich jeden schwierigen Tag beginne: Ich gehe vor. Alles andere muss warten. 

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