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Alles Konstrukt oder was?
Ist die Offenbarung noch zu retten?

Buch auf dem Tisch

in: GOTT – NUR EIN KONSTRUKT?

Über konstruktivistisches Denken in der Theologie

Herausgegeben von Norbert Brieden und Jonas Maria Hoff






 

1. Problemstellung: Konstruktionalität der Wirklichkeit als Ende der Offenbarung?


Mit einer beispiellosen wissenschaftlichen Redlichkeit ging der evangelische Glaube im Zuge der Aufklärung mit sich selbst hart ins Gericht und gab in einem Prozess der kritischen Selbstreflexion nahezu alle bis dahin geltenden Begründungen seiner Verbindlichkeit auf: die kosmologische, die historische, die biologistische sowie die moralische.
Nach diesem Verzicht auf die bisherigen Absicherungen blieb es allein bei der Konzentration auf das phänomenologische Argument der Offenbarung, mit dem die Theologie verhältnismäßig lange dem Projektionsverdacht standhalten konnte. Die Offenbarung wird als das Erschließungsereignis betrachtet, welches eine fundamental neue Sicht der Dinge mit sich bringt. Dank deren Irritationspotentials widerspricht die Offenbarung unserem Wunschdenken, irritiert unsere Einbildungen und entlarvt sie als eben solche. Dadurch legitimiert sie sich als ein unverfügbares, durch den Menschen nicht erzeugbares Ereignis und stellt durch ihre projektionskritische Intention eben das Gegenteil einer Projektion dar.

Der Kerngedanke des apologetischen Offenbarungsarguments lautet: Das, was die Projektionen als solche entlarvt, kann selbst keine Projektion sein. Es ist also das Phänomen der Ereignishaftigkeit, welches am stärksten für die Möglichkeit einer externen Wirklichkeit und somit gegen die These der Allkonstruktionalität zu sprechen scheint.

2. Problemverschärfung: Ereignis als Konstrukt


Doch auch diese relative Glaubensgewissheit wird durch den Radikalen Konstruktivismus in Frage gestellt. Laut ihm sei nun „jedeWirklichkeit im unmittelbarsten Sinne die Konstruktion derer […], die diese Wirklichkeit zu entdecken und erforschen glauben.“1 Alles, was wir als Wirklichkeit erleben, sei „nicht ein passives Abbild der Realität, sondern Ergebnis einer aktiven Erkenntnisleistung“,2 das Produkt der Wahrnehmungstätigkeit und deswegen das Konstrukt
des Menschen. Der Radikale Konstruktivismus festigt ein für alle Mal das erkenntnistheoretische Paradigma, welches schon die konsequente Hermeneutik als Entsprechung zu Kants Bestreitung des „Ding an sich“ intendierte: Nichts innerhalb der menschlichen Wirklichkeit spricht für sich allein. Dabei wird von den Vertretern des Radikalen Konstruktivismus keineswegs bestritten, „daß eine äußere, eben deutungs- und konstruktunabhängige Realität besteht“, sondern nur verneint, dass diese äußere Wirklichkeit „in ihrem Sosein, also per se erfaßbar ist“.3 Die Konstruktion der Wirklichkeit vollzieht sich in der Umwelt, die wir aber stets lediglich als eine Umwelt für uns erfahren. „Beobachten, so kann man zusammenfassen, ist eine empirische, beobachtbare Operation eines existierenden Systems in einer existierenden Umwelt.“4

Was für die Umwelt gilt, gilt auch für die Objekte unserer Wahrnehmung: „Objekte sind keine Gegebenheiten. Wahrnehmen und Denken liefern uns nicht einfach ein Bild der Wirklichkeit, sondern vielmehr ein Bild unserer Aktivitäten in Umwelten, also ein Bild dessen, was wir mit Realität anstellen. Dinge sind Dinge-für-uns, Tat-Sachen, d. h. sie resultieren aus empirisch hochgradig bedingtenAktivitäten.“5 Der Abschied von der Wirklichkeit hinter der Wirklichkeit fällt selbst innerhalb des Konstruktivismus unterschiedlich aus. Während einige der Vermutung nachhängen, „daß die ‚wirkliche‘ Welt sich ausschließlich dort offenbart, wo unsere Konstruktionen scheitern“,6oder nur Negativaussagen über sie gelten lassen,7 und einige wieder um einen „Minimalrealismus“ annehmen,8 erklären andere jegliches theoretisches Bemühen um die extrakonstruktionale Realität und um die entsprechende Wahrheitsfrage entschieden für obsolet.9Wenn nun „der Weg, hinter jeweilige Konstrukte zu gelangen,[…] definitiv verbaut scheint bzw. keine menschliche Möglichkeitdarstellt“,10 dann müssen auch Ereignishaftigkeit, Kontingenz, Empfänglichkeit und Rezeptivität, welche gerne als Argumente für die Nicht-Konstruiertheit eingeführt werden, als konstruktionale Phänomene betrachtet werden. Das, was „als Ereignis wahrgenommen und identifiziert wird [,]steht bereits unter diesen Bedingungen der Bedeutungszuweisung bzw. der Interpretation aufgrund vorausliegender Interpretation.“11Somit ist jeder Gegenstand – auch der Erkenntnisgegenstand „Ereignis“– „stets Gegenstand unter einer Deskription und in der Erkenntnis, ist Gegenstand in einer Interpretation.“12  Wenn also "jede Wahrnehmung als konstruktionaler Akt expliziert werden muß“,13 dann ist auch unsere Wahrnehmung des Ereignisses als eines solchen von unseren Erkenntnismöglichkeiten und -fähigkeiten abhängig.14 Da das Ereignis eine zentrale und konstitutive Rolle innerhalb
unserer narrativ strukturierten Wirklichkeitsinterpretationen spielt, kann die obige Behauptung mit Hilfe der perspektivenfokussierten Narratologie noch etwas anschaulicher gemacht werden. Laut dieser kann das Ereignis nur dank einer bestimmten narrativen Perspektive überhaupt als solches identifiziert werden. Die Diversität unserer lebensweltlich narrativen Kontexte hat stets zur Folge, „dass das gleiche Geschehen aus der einen Perspektive als ein Ereignis erscheint und sich also als Teil der Narration zeigt, aber aus einer anderen Perspektive nicht als Ereignis erscheint und sich mithin nicht für eine Narration anbietet.“15 Somit ist auch das Ereignis als Produkt einer bestimmten Perspektive als ein (narratives) Konstrukt zu betrachten.


3. Bei näherer Betrachtung: Konstruktionalität der Unverfügbarkeit …


Fällt mit dieser Behauptung der unumgänglichen Konstruktionalität nun auch das letzte Fundament des christlichen Glaubens? Und: Was bleibt nach diesem radikalkonstruktivistischen Kahlschlag von der Unverfügbarkeit bzw. Transzendenz eigentlich noch übrig?
Eine gründlichere Betrachtung hilft hier weiter: Wenn es die Wirklichkeit an sich für uns nicht gibt, sondern wir diese immer „nur“ als Interpretationskonstrukt haben, dann muss es für unsere Interpretationshandlung programmatisch sein, dass das, worauf sie zielt und womit sie operiert – das, was man radikalkonstruktivistisch auch als „Umwelt“ bezeichnet (s. o.) – im Gegensatz zum (naiven) Realismus notwendigerweise nicht mit der Interpretation zusammenfällt.
„Folglich muss die Interpretation, wenn und sofern sie sich als solche versteht, eine prinzipiell uneinholbare Wirklichkeit postulieren und dieser ihren hermeneutischen Überschuss zugestehen. Das bedeutet: Wohl haben wir die Wirklichkeit nur als Interpretation, doch – bzw. gerade deswegen! – geht diese in der Interpretation nicht auf.“16 So wird die Unverfügbarkeit als eine hermeneutische näher bestimmt und als eine prinzipielle Unausdeutbarkeit bzw. Uneinholbarkeit der Wirklichkeit gewahrt. Das führt keineswegs zu einer resignierenden Feststellung, dass wir die Wirklichkeit nur als Konstrukt haben, sondern zu der Erkenntnis, dass wir sie als solche nur dank der Konstruktionalität, d. h. dank der konstruktionalen Voraussetzungen, die wir mitbringen, überhaupt haben können. Die Konstruktionalität ist der einzige epistemisch-heuristische Zugang des Menschen zu aller Wirklichkeit.
So hätten wir ohne Konstruktionalität keine Wirklichkeit. Erst eine bestimmte Perspektive macht es uns auch möglich, das Unverfügbare als eben solches wahrzunehmen. Also ist auch die Unverfügbarkeit nicht trotz der Konstruktion, sondern dank der Konstruktion zu haben. Die Konstruktionalität ist nicht das Ende der Unverfügbarkeit, sondern deren Ermöglichung.
Das bedeutet im Umkehrschluss, dass unsere Konstrukte die notwendigen Voraussetzungen darstellen, auf die die Unverfügbarkeit angewiesen ist, um sich überhaupt als solche zeigen bzw. offenbaren zu können. Die Konstruktionalität als die Grundvoraussetzung ist – der Beschaffenheit  der Unverfügbarkeit entsprechend – als notwendig und nicht hinreichend zu denken. Wenn sie nämlich hinreichend wäre, wäre das Unverfügbare nicht mehr unverfügbar. Sie kann weder die Unverfügbarkeit noch deren Ermöglichung automatisch herbeiführen, sondern steht für die Bedingung deren Möglichkeit. Somit bedeutet der Radikale Konstruktivismus keineswegs das Ende der Kategorie der Unverfügbarkeit, sondern im Gegenteil deren Bekräftigung.


4. … und Unverfügbarkeit der Konstruktionalität


Deswegen handelt es sich um ein klares Missverständnis, wenn die Konstruktionalität mit der Eigenmächtigkeit des Subjekts gleichgesetzt wird. Das Gegenteil ist der Fall: Dass wir unsere Wirklichkeit konstruieren, bedeutet nicht, wir hätten sie in der Hand. Nicht nur zeigen sich unsere Konstrukte uns gegenüber autonom, kontingentoder ereignishaft, sondern kaum von uns entworfen, entfalten sie ihre normative Macht über uns und formen uns, ihre Schöpferinnen
und Schöpfer, zu ihrem Bilde. Auch das Konstruieren selbst ist uns unverfügbar. Wir können es nämlich nicht abstellen. Wir können nicht nicht konstruieren, wir können nicht nicht interpretieren, wir können nicht nicht perspektivisch wahrnehmen. Selbst wenn wir ein Konstrukt als solches durchschauen, können wir es nicht einfach zugunsten einer vermeintlichen Realität ablegen. Der Ersatz des ausgedienten Konstrukts wäre nicht die hinter diesem verstecke Wirklichkeit, sondern wieder ein Konstrukt.
Wir bleiben in Konstrukten gefangen, wir erfahren uns als von Anfang an in Konstrukte verstrickt. Und so wie die Behauptung, nicht zu glauben, lediglich ein weiteres Glaubenszeugnis ist, ist die Behauptung, nicht zu konstruieren, nicht mehr und nicht weniger als ein Konstrukt. Auch an diesem Punkt können wir also der Unverfügbarkeit nicht entkommen. Sie lauert gerade da, wo sich der Mensch-Konstrukteur seiner Welt als deren Herrscher missversteht und belehrt  uns eines Besseren. Diesen Überlegungen zufolge kann der Radikale Konstruktivismus als eine etwas andere, radikale Theorie der Unverfügbarkeit bezeichnet werden. Und als solcher ist er dann alles andere als eine Bedrohung des christlichen Glaubens oder gar eine Gegenposition zum theologischen Denken. Er ist – gerade dank seiner Radikalität – ein starker Partner und Verbündeter im Aufklärungskampf gegen den naiven Glauben an die sogenannte interpretationsfreie Realität wie die ebenfalls naive Ideologie der Eigenmächtigkeit, also die Überzeugung, sich dieser epistemisch gänzlich bemächtigen zu können.

5. Und wie steht es um die Offenbarung?


Zunächst kann zwar beruhigend konstatiert werden, dass die These der Allkonstruktionalität die theologische Argumentation insofern entlastet, als dass durch sie die erkenntnistheoretische Position der Theologie und des Glaubens anderen Wirklichkeitsdeutungen bzw.-konstrukten ebenbürtig gemacht wird. Denn wenn alles ein Interpretationskonstrukt ist, ist auch die dem christlichen Glauben zugrunde liegende Wirklichkeit nicht mehr und nicht minder Interpretation als zum Beispiel das sich oft absolutistisch gebärdende materialistisch-positivistische Weltbild des Atheismus. Das bedeutet, dass alle Welt- und Wirklichkeitserfassungen einen perspektivischen Charakter haben. „In diesem Zusammenhang könnte man mit Peter Lampe sagen, daß wir hinsichtlich unserer unterschiedlichen Wirklichkeitskonstrukte‚ alle im selben Boot sitzen‘, und dadurch wird eine abstrakte Vorab-Privilegierung ihrerseits als prinzipiell kontingente Operation sichtbar. Für Lampe hat darum die Integration des RK [radikalen Konstruktivismus, K. K.] in die theologische Wissenschaft auch einen ‚apologetischen Dienst‘.“17 „Man kann sogar davon ausgehen, dass im Vergleich zu den positivistisch-naturalistischen Weltanschauungstendenzen eine hermeneutisch fundierte, an der historisch-kritischen Methode geschulte Theologie durch den radikalen Konstruktivismus gerade nicht in ihren Grundfesten erschüttert wird. Und doch ist diese erkenntnistheoretische Rehabilitierung des christlichen Glaubens durch den hermeneutischen Konstruktivismus nicht vorschnell als ein apologetischer Sieg zu werten, solange das ganze System auf der prinzipiellen Nicht-Konstruiertheit der Offenbarung aufbaut.“18 Wie steht es also nun konkret um die Offenbarung? Wenn die Konstruktionalität nicht das Ende der Unverfügbarkeit, sondern deren Ermöglichung darstellt, müsste sie auch nicht als das Ende des Offenbarungsgeschehens, sondern als dessen Ermöglichung betrachtet werden. Das bedeutet konkret: Die Offenbarung muss an bestimmte
hermeneutische Voraussetzungen anknüpfen, um als eben solche wahrgenommen zu werden.
Was also für die Ereignisse im Allgemeinen gilt, das muss konsequenterweise auch auf das Offenbarungsereignis zutreffen. Laut Ingolf U. Dalferth ist die „‚Offenbarung‘ […] im Entscheidenden nicht das, was erlebt wird, sondern, wie etwas erlebt wird.“19 Sie ist auch ein Produkt unserer (narrativen) Perspektive und somit ein Interpretationskonstrukt. Auch müssen diese Voraussetzungen als notwendig und nicht als hinreichend gedacht werden, wenn sie als die Voraussetzungen des Unverfügbaren fungieren sollten. Sie sind nicht hinreichend, weil sie die Offenbarung nicht quasi automatisch bewirken oder herbeiführen können, und sie sind notwendig, weil es ohne sie nicht einmal die Möglichkeit von Offenbarung geben würde.


6. Der Offenbarungsbegriff als hermeneutischer Schlüssel zur Offenbarung


Am Anfang jedes Erfahrungsprozesses steht immer eine Perspektive, die dem narrativen Lebenskontext entstammt und die sich in einer entsprechenden Wahrnehmungsfähigkeit und Erwartungshaltung manifestiert. Zu dieser Erwartungshaltung gehört auch unsere Ausrichtung und Sensibilisierung auf das Andere der eigenen Wirklichkeitskonzeption und auf dessen Ereignishaftigkeit. Die Annahme dieser speziellen Art von Wahrnehmungskompetenz scheint mir unumgänglich, wenn wir uns die Frage stellen, wie unter der Prämisse der Unhintergehbarkeit eines perspektivisch individuellen Zugangs zur Wirklichkeit die Wahrnehmung eines Novums dennoch möglich ist. Dies könnte mit der Fähigkeit gegeben sein, das diesen Horizont Überschreitende als ein solches, d. h. Fremdes, Anderes bzw. Nicht-Dazugehöriges vernehmen zu können. Ausgehend von diesen Überlegungen und auch in Hinblick auf deren zumindest alltagsempirische Bestätigung gehe ich davon aus, dass die Ausrichtung auf das Andere unserer Selbst zur anthropologischen Grundausstattung gehört. Ohne dieses Alteritätsprinzip wäre das Andere als solches gar nicht erkennbar, es würde im Horizont des Menschen also überhaupt nicht vorkommen. Die Ausrichtung auf das Andere unserer selbst scheint mir auch die anthropologische Grundlage unserer Empfänglichkeit für die Transzendenz (ich nenne sie „die transzendentale Empfänglichkeit“ 20) zu bilden. Dank ihrer kann all das Unverfügbare als das unseren Horizont Überschreitende bereits innerhalb dieses Horizonts wahrgenommen werden. Diese transzendental-epistemische bzw. heuristische Fähigkeit, deren Sitz innerhalb der sprachlich-kognitiven Einbildungskraft vermutet werden dürfte, kann als die anthropologische Voraussetzung der Möglichkeit von Offenbarung bezeichnet werden.
So kann man sagen, ohne einen (wenn auch vagen) Begriff des Unverfügbaren wäre es uns nicht möglich, dieses zu vernehmen. Und ohne einen (wenn auch vagen) Begriff von so etwas wie Offenbarung wäre auch eine Offenbarungserfahrung nicht möglich. Wir bedürfen also eines Offenbarungsbegriffs, welcher als der hermeneutische Schlüssel des neuen Wirklichkeitshorizonts fungiert und für entsprechende Erfahrungen sensibilisiert. Ohne einen hermeneutischen Schlüssel keine Wahrnehmung, ohne einen Offenbarungsbegriff keine Offenbarung. Der Offenbarungsbegriff kann somit als der notwendige und nicht hinreichende hermeneutische Schlüssel bezeichnet werden, ohne den die entsprechende Wirklichkeitserfahrung nicht möglich wäre. Er ist als hermeneutischer Schlüssel für jegliche Wirklichkeitskonstitution unabdingbar und somit von fundamentaler wirklichkeitskonstitutiver Bedeutung.

7. Radikalkonstruktivistische Offenbarungstheologie jenseits der
Alternative von Offenbarungspositivismus und natürlicher Theologie


Wie die obige Analyse gezeigt hat, ist die Ausrichtung auf das Andere unserer Selbst genuiner Bestandteil des hermeneutischen Zirkels unserer Wirklichkeitswahrnehmung. Deswegen leben wir auch in der Erwartung der Ereignisse, was bedeutet, dass unsere Einbildungskraft im Stande ist, einen hermeneutischen Vorgriff und Zugriff auf das prinzipiell Unergreifbare zu vollziehen. Der Offenbarungsbegriff als der hermeneutische Schlüssel zu solcher unverfügbaren Wirklichkeit könnte dann verstanden werden als die notwendige interpretative Vorwegnahme und Sensibilisierung auf etwas, das gerade in seiner Unverfügbarkeit wahrgenommen und präsent werden will. Das geht nur, wenn es nicht in die Sprachlosigkeit verbannt, sondern sprachlich vermittelt wird. 
Paul Tillich schreibt im Zusammenhang der Erörterung seiner Methode der Korrelation: „Aber obgleich Gott in dem Abgrund seines Seins vom Menschen in keiner Weise abhängt, ist Gott in seiner Selbstoffenbarung gegenüber dem Menschen abhängig von der Weise, wie der Mensch diese Offenbarung empfängt.“21 Ähnlich der programmatische Satz Karl Rahners: „Gott kann nur das offenbaren, was der Mensch hören kann.“22 So öffnet sich mit Hilfe der radikalkonstruktivistischen Lesart des Offenbarungsgeschehens auch für die Offenbarungstheologie der Weg, das Unverfügbare als solches zu thematisieren, es also weder sprachlich zu vereinnahmen, noch es so unsagbar fern werden zu lassen, dass es aus unserem Horizont gänzlich verschwindet und zu existieren aufhört. Ähnlich argumentiert Ulrich H. J. Körtner: „ReineTranszendenz wäre für uns Menschen freilich gleichgültig. […] Nur jene Transzendenz ist für uns relevant, die sich von der Immanenz unterscheidet und doch in ihr präsent ist.“23 Dieses Denkmuster eines „Unvermischt-und-ungetrennt“ liegt auch der klassischen dogmatischen Auffassung der Beziehung von Gott und Welt zugrunde, laut der Gott weder in die Welt ein- und in ihr aufgeht, noch von ihr gänzlich abgetrennt bleibt.24
Mit Hilfe der radikalkonstruktivistischen Relektüre des Offenbarungsbegriffs kann die Offenbarungstheologie denjenigen Zugang zur Transzendenz finden und kultivieren, welcher weder in deren Vereinnahmung noch deren Vermeidung ausartet, und sich damit entschieden jenseits der Alternative von Offenbarungspositivismus und natürlicher Theologie positionieren.


8. Wieder im Rennen: Der christliche Glaube im Konflikt der Konstrukte


Die unter Punkt 6 konstatierte ontologische Ebenbürtigkeit der Wirklichkeitskonstrukte, dank welcher die Theologie eine akademische Rehabilitierung erfährt, kann nun um eine weitere Feststellung erweitert werden: Jedes Wirklichkeitskonstrukt operiert mit einem hermeneutischen Schlüssel, der als Offenbarungsbegriff bezeichnet werden kann. Denn er richtet unsere Wahrnehmung auf bestimmte perspektivisch folgerichtige Ereignisse der Wirklichkeit aus und macht sie, die Wahrnehmung, zugleich für die dieser Perspektive inadäquaten Ereignisse unzugänglich.
Der allgegenwärtige Konflikt der Wirklichkeitsinterpretationen kann somit auch als Konflikt der Offenbarungsbegriffe betrachtet werden. Dieser Konflikt muss dank des Wechsels von dem ontologischen zum radikalkonstruktivisch-hermeneutischen Paradigma auf eine neue Art und Weise ausgetragen werden. Es findet eine Verschiebung statt: Von einem vulgären Wahrheitsdiskurs um die vermeintliche Realität an sich, hin zu der Frage nach der Qualität unserer Wirklichkeitskonstrukte. Also wird statt der Suche nach der einen wahren Wirklichkeit die Frage verfolgt, wie unsere Offenbarungsbegriffe beschaffen sein müssen, um die Konstruktion einer lebenswerten Welt zu ermöglichen. Ingolf U. Dalferth formuliert eine solche Verschiebung der Fragestellungals Aufgabe der theologischen Forschung: „[N]icht, wie
‚religiöse Erschließungslebnisse‘ im Unterschied von anderen zu beschreiben sind,“ sei nun die Frage, „sondern wie das, was erlebt wird, verstanden wird bzw. werden muss, damit es zu Recht ‚Offenbarung‘
genannt werden kann.“25 Dank dieser Verschiebung rückt der Offenbarungsbegriff als der hermeneutische Schlüssel in den Mittelpunkt des ontologischen Diskurses. Als dem konstitutiven Leitprinzip unserer Wirklichkeitskonstruktion
kommt ihm jetzt eine Schlüsselposition innerhalb des Konstruktionsvorgangs zu. Und so entscheidet sich der radikalkonstruktivistisch fundierte Diskurs um die optimale Wirklichkeit am Kriterium der wirklichkeitskonstitutiven Leistungsfähigkeit der in den Wettbewerb eingebrachten Offenbarungsbegriffe. Diese Leistungsfähigkeit des jeweiligen Offenbarungsbegriffs müsste sich ander Qualität des entsprechenden Wirklichkeitskonstrukts ablesen lassen. Somit wäre das Ziel jeglicher konstruktionalen Bemühungen eine menschliche und menschenwürdige Wirklichkeit.
Das Christentum könnte sich in einen solchen Diskurs dank seines Offenbarungsbegriffs besonders eindrücklich einbringen und ihn entscheidend prägen. Die wirklichkeitskonstitutive Qualität des christlichen Offenbarungsbegriffs schlägt sich nieder in der stets mitgeführten kritischen Berücksichtigung der (möglichen) Opfer der eigenen Wirklichkeitskonstruktion und manifestiert sich demnach in der radikalen Verantwortlichkeit des konstruktionalen Handelns.
Die stete kritische Rücksprache mit der Perspektive der (möglichen) Opfer der eigenen Wirklichkeitskonstruktion wird der christologischen Lesart des Gottesbegriffs entnommen, laut der jegliche Religionskritik im Namen der Nächstenliebe eine Kritik im Namen Gottes sei. In diesem Sinne kann der vermeintliche Gotteslästerer Jesus von Nazareth als der Sohn Gottes vernommen werden, und der durch ihn verkündigte menschgewordene Gott als die kritische Instanz der vorherrschenden Gottesbilder fungieren. Der Offenbarungsbegriff, welcher sich durch Jesu Zeugnis etabliert, stellt somit das notwendige Kriterium einer menschlichen und menschenwürdigen Wirklichkeitskonstruktion dar. Darüber hinaus
eignet er sich vorzüglich als die ebenfalls notwendige regulative Instanz des pluralen Diskurses, in dem die Hoheitsansprüche der konkurrierenden Offenbarungsbegriffe verhandelt werden.
Was den christlichen Offenbarungsbegriff hierzu autorisiert, ist seine ideologiekritische Radikalität. Diese verdankt sich ihrer Bezugsgröße, dem christlichen Gottesbegriff, dessen selbstkritischer Charakter dank der mitgeführten Referenz auf die Opferperspektive ungebrochen durchgehalten wird. Somit repräsentiert der christliche Offenbarungsbegriff die höchste, alle anderen Prinzipien überragende Instanz, weil diese sich selbst angesichts der radikalsten Infragestellung
durch die Perspektive der (möglichen) Opfer nicht in Frage gestellt, sondern im Gegenteil bestätigt sieht, ja, im kritischen Gespräch mit diesen stets neu konstituiert. Gott wird Gott durch die Selbst-Infragestellung im Modus der Mitmenschlichkeit. Gott wird also auf dem Umweg über die eigene Menschwerdung zum wahren Gott. So
wird auch der Mensch auf dem Umweg über die göttlich autorisierte radikale Mitmenschlichkeit zum wahren Menschen. Und diesem Konstruktionsprinzip folgend, also das eigene konstruktionale Handeln stets kritisch an der Perspektive der (möglichen) Opfer desselben orientierend, kann die (Um)Gestaltung der Wirklichkeit des Menschen in eine wahrhaft menschliche Wirklichkeit münden.


9. Aufgabe der Theologie und Kirche: Arbeit am Offenbarungsbegriff


Ohne Vorverständnis kein Verständnis, ohne Offenbarungsbegriff keine Offenbarung. Während die Offenbarung, lapidar gesagt, Gottes „Job“ ist, liegt das notwendige Vorverständnis – d. h. die notwendige, jedoch nicht hinreichende, sprachlich-ästhetische Ausrichtung auf diese – in der Mitverantwortung des Menschen und allen voran in der Zuständigkeit von Theologie und Kirche. Es bedarf einer sprachlichen Sensibilisierung, welche den modernen Menschen dazu befähigt, die Offenbarungen Gottes zu vernehmen, anstatt sie zu übersehen.
Es bedarf also einer Sprache, die den Menschen in den Zustand der denkerischen Offenheit, des existentialen Ausschau-Haltens und Fragens nach Gott versetzt und damit eine offenbarungsaffine Wahrnehmungspraxis etabliert. Die Suche nach einer solchen Sprache scheint mir gerade angesichts der mehrfach diagnostizierten Krise der großen christlichen Kirchen das Gebot der Stunde zu sein.
Die Perspektive, welche der radikale Konstruktivismus mit sich bringt, fokussiert die Theologie bei aller notwendigen Traditionsverbundenheit auf deren zukunftsorientierende wirklichkeitsstiftende Potentiale. Es ist vor allem der Offenbarungsbegriff, dessen schöpferische Wirkkraft dank des radikalkonstruktivistischen Impulses neu entdeckt wird. Auf diese Entdeckung hin muss eine intensive theologische Arbeit folgen, welche mit Hilfe der radikalkonstruktivistischen Lesart der zentralen Inhalte des christlichen Glaubens diese in eine zukunftsfähige Theologie umsetzen und in eine inspirierende Sprache des Glaubens übersetzen kann.


10. Fazit


Alles beginnt mit dem Hinschauen. Der christliche Offenbarungsbegriff orientiert unseren Blick so, dass wir nach Gottes Offenbarung in den Ereignissen der Menschlichkeit Ausschau halten. Mit einer solchen Ausrichtung des Blicks werden neue Schwerpunkte gesetzt, wird die Bedeutsamkeit neu verliehen und somit ein neues Wirklichkeitsbild etabliert.
Die Botschaft Jesu Christi ist ein epochaler Versuch, den Blick des Menschen so zu lenken, dass bei ihm die Ausschau nach Gott mit der Konzentration auf die Mitmenschlichkeit zusammenfällt. Die beiden Instanzen, Gott und Mensch, finden endgültig zusammen und können nicht mehr gegeneinander ausgespielt werden. Auf diese Weise nimmt es der menschgewordene Gott mit den anderen Gottesbildern auf und entlarvt deren Konstrukte einer besseren Welt als eine fahrlässige (Selbst)Täuschung. Unter der Anleitung des christlichen Offenbarungsbegriffs entsteht eine neue Wirklichkeitskonstruktion, die das Antlitz des menschlichen Gottes trägt und dieses durch die sich etablierte Wahrnehmungspraxis anstrebt. Eine radikalkonstruktivistisch inspirierte Konzentration auf die wirklichkeitsstiftende Qualität des christlichen Glaubens wäre nun der Weg, den die Theologie beschreiten könnte, um deren im Verschwinden begriffene Relevanz und Aktualität wiederzuerlangen.

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1 P. Watzlawick, Vorwort, in: Ders. (Hrsg.), Die erfundene Wirklichkeit. Wie wissen wir, was wir zu wissen glauben? Beiträge zum Konstruktivismus (Serie Piper 4742), München 2006, 9 –11, 9.
2 F. v. Ameln, Konstruktivismus. Die Grundlagen systemischer Therapie, Beratung und Bildungsarbeit, Tübingen – Basel 2004, 3. Dabei versteht F. v. Ameln unter Realität „die Welt, so wie sie objektiv, d. h. unabhängig von unserer Erkenntnis ist“, während er als Wirklichkeit das bezeichnet, „was uns in unserem phänomenalen Erleben als Realität erscheint“ (ebd.).
3 A. Klein, „Die Wahrheit ist irgendwo da drinnen …?“ Zur theologischen Relevanz (radikal-) konstruktivistischer Ansätze unter besonderer Berücksichtigung neurobiologischer Fragestellungen, Neukirchen-Vluyn 2003, 34.
4 S. J. Schmidt, (Radikaler) Konstruktivismus. Wie Wirklichkeit wirklich wird, in: der blaue reiter. Journal für Philosophie (1995/2), 30 –33, 31. „Systeme (und Menschen können als solche betrachtet werden) könnten ohne Umwelt nicht existieren und nichts erkennen“ (ebd.).
5 Ebd.
6 E. v. Glasersfeld, Einführung in den radikalen Konstruktivismus, in: P. Watzlawick (Hrsg.), Die erfundene Wirklichkeit, München 2006, 16 –38, 37. Vgl. die kritische Analyse des konstruktivistischen Umgangs mit der Realitätsfrage in A. Klein, „Die Wahrheit ist irgendwo da drinnen …?“ (s. Anm. 3), 133 –168.
7 Vgl. P. Watzlawick, Einleitung, in: Ders. (Hrsg.), Die erfundene Wirklichkeit. (s. Anm. 1), 14.
8 Vgl. die kritische Rezeption der Ansätze von G. Roth und H. Lenk in: A. Klein, „Die Wahrheit ist irgendwo da drinnen …?“ (s. Anm. 3), 137–145.
9 Vgl. A. Klein, „Die Wahrheit ist irgendwo da drinnen …?“ (s. Anm. 3), 45f.,137, 146f.
10 A. Klein, „Die Wahrheit ist irgendwo da drinnen …?“ (s. Anm. 3), 27; Herv. AK.
11 A. Klein, „Die Wahrheit ist irgendwo da drinnen …?“ (s. Anm. 3), 154.
12 G. Abel, Interpretationswelten. Gegenwartsphilosophie jenseits von Essentialismus
und Relativismus, Frankfurt a. M. 1993, 456; Herv. GA. Auch zitiert in: A. Klein, „Die Wahrheit ist irgendwo da drinnen …?“ (s. Anm. 3), 155.

13 A. Klein, „Die Wahrheit ist irgendwo da drinnen …?“ (s. Anm. 3), 154f.

14 Vgl. K. Kristinová, Die verbotene Wirklichkeit. Untersuchungen zu der wirklichkeitskonstitutiven Relevanz des christlichen Offenbarungsbegriffs (HUTh72), Tübingen 2018, 46.

15 F. Breithaupt, Das narrative Gehirn. Was unsere Neuronen erzählen, Berlin92022 (2022), 70.

16 K. Kristinová, Die verbotene Wirklichkeit (s. Anm. 14), 41.

17 A. Klein, „Die Wahrheit ist irgendwo da drinnen …?“ (s. Anm. 3), 478. Kleinzitiert ebd. P. Lampe, Die urchristliche Rede von der ‚Neuschöpfung des Menschen‘im Lichte konstruktivistischer Wissenssoziologie, in: S. Alkier/R. Bruckner(Hrsg.), Exegese und Methodendiskussion (TANZ 23), Tübingen 1998, 21–32,30, 32.18 K. Kristinová, Die verbotene Wirklichkeit (s. Anm. 14), 46.

19 I. U. Dalferth, Radikale Theologie. Glauben im 21. Jahrhundert (ThLZ.F 23),Leipzig 2010, 71; Herv. IUD.

20 Vgl. K. Kristinová, Die verbotene Wirklichkeit (s. Anm. 14), 46.

21 P. Tillich, Systematische Theologie, Bd. I, Berlin – New York 81987, 75.

22 K. Rahner, Hörer des Wortes. Zur Grundlegung einer Religionsphilosophie(1941), in: Ders., Sämtliche Werke, Bd. 4, Freiburg i. Br. 1997, 142.

23 U. H. J. Körtner, Wiederkehr der Religion? Das Christentum zwischen neuerSpiritualität und Gottvergessenheit, Gütersloh 2006, 36.

24 Vgl. dazu u. a.W. Härle, Dogmatik, Berlin – New York 22000, 216 – als Verhältnisbestimmung der Gott-Welt-Beziehung – oder auch 239 – im Zusammenhang der Bestimmung Gottes als Liebe.

25 I. U. Dalferth, Radikale Theologie (s. Anm. 19), 71.

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