


Dr. theol. Katarína Kristinová
Dr. theol. Katarína Kristinová
Predigtimpulse zu Jes 35, 3-10
(2. Advent, Reihe V)
Veröffentlicht in:
AUFTRAG UND WAHRHEIT
Ökumenische Quartalsschrift für Predigt, Liturgie und Theologie
Schriftleiter Pfarrer Dr. Jürgen Henkel, Hauptstr. 37, D-95100 Selb
Tel. (+49) 09287/2470; Fax (+49) 09287/890.994 (d.; Pfarramt)
Aboservice: Abo.Auftrag-und-Wahrheit@gmx.de
St. Nr. 258/227/70250

Literatur:
Willem A. M. BEUKEN, Jesaja 28-39 (HThKAT), Freiburg/Basel/Wien 2010.
Ulrich BERGES / Willem A. M. Beuken, Das Buch Jesaja. Eine Einführung (UTB), Göttingen 2016.
Exegetischer Hinweis:
In Predigten ist oftmals auch vom Verfasser des Textes die Rede. In diesem Fall ist davon abzuraten, sich auf die historische Person des Propheten Jesaja zu beziehen. Der Grund dafür ist die Datierung des Kap 35: Es handelt sich hier um einen exilischen Einschub, der in die primär aus dem 8. und 7. Jh. v. Chr. stammenden Gerichtsworte von Jes 1-39 hineinkomponiert wurde. Da der Prophet Jesaja zwischen 734 und 701 während der neuassyrischen Expansionsbewegung aufgetreten ist und den Untergang des Nordreiches (722) miterlebt hat, kann er nicht der Autor des Kap 35 sein (vgl. BERGES, 11f). Wir müssen im Vertrauen auf die atl. Forschung von einer kollektiven Verfasserschaft des Buches ausgehen, denn die Zeitspanne, welche das Buch Jesaja thematisch umfasst, reicht von der assyrischen bis in die persische Zeit.
Bibelkundliche Einordnung und Textkomposition:
Jes 35, 3-10 ist in den Kontext der Kap 28-35 einzuordnen, welche die Durchsetzung der Herrschaft Gottes auf dem Zion thematisieren, gehört aber auch zur Texteinheit der Kapitel 34 und 35, der so genannten Kleinen Apokalypse (vgl. BERGES, 118. 332). Kap 35 hat die Funktion eines Brückentextes, der das Thema „Vergeltung Gottes“ in den letzten Kapiteln des Jesajabuches vorbereiten soll (vgl. BERGES, 122). Während Kap 34 die Verwüstung der JHWH-feindlichen Macht thematisiert, beschreibt Kap 35 in starken Bildern die belebende Kraft der Gegenwart Gottes für diejenigen, die auf seine Hilfe und Rettung („Jesaja“ bedeutet „Gott rettet“) vertrauen. Das Kap 35 ist dreiteilig aufgebaut: Der 1. Teil, V 1-2, stellt eine Theophanie-Ankündigung dar; im 2. Teil, V 3-6a, handelt es sich um ein Heilsorakel; Der 3. Teil, V 6b-10, thematisiert die Rückkehr zum Zion. (vgl. BEUKEN, 334). Die Komposition des Kap 35 wechselt im Dreischritt auch in Hinblick auf die Szenerie: Wüste – Heilung – Wüste (vgl. BEUKEN, 343).
Homiletische Impulse:
Um der Gemeinde eine schlüssige und lebensweltlich relevante Auslegung des Textes anzubieten, schlage ich vor, V 5-6a zum programmatischen Zentrum des Textes und logischen Ausgangspunkt der Predigtgestaltung zu bestimmen. Diese Verse gehören zum mittleren Teilabschnitt, welcher literarkritisch umstritten ist, da er laut exegetischer Forschung einen Zusatz und eine Unterbrechung des Zusammenhangs von V 1-2a und V 6b-10 darstelle (Vgl. BERGES, 122). Das ist in Hinblick auf die synchrone Analyse, an der sich in den letzten Jahrzehnten die Jesaja-Forschung orientiert, berechtigt. Die synchrone Analyse rückt Aufbau und Struktur der finalen Textgestalt in den Mittelpunkt (vgl. BERGES, 9f) und hat auch den metaphorischen Charakter des Textes im Blick, der die existentielle Aktualisierung der darin enthaltenen Botschaft möglich macht.
V 5-6a: „Dann werden die Augen der Blinden aufgetan und die Ohren der Tauben geöffnet werden. Dann wird der Lahme springen wie ein Hirsch, und die Zunge des Stummen wird frohlocken.“ Die hier ausgemalten Heilungswunder stehen im Zentrum unseres Predigttextes, welcher eine radikale Verwandlung der Welt zum Thema hat. An erster Stelle wird die Heilung der Blindheit aufgeführt. Und das mit Recht. Denn: Alles beginnt damit, dass wir neu sehen.
„Bist du blind?“ – schimpft erbost ein Mann in der Berliner S-Bahn mit einem Passanten. Dieser will gerade den Platz einnehmen, welcher soeben von den anderen Fahrgästen für eine junge Frau mit Blindenstock frei gemacht wurde. Mit diesem einen Satz hat der Aufgebrachte die Paradoxie der geistigen Blindheit scharfsinnig erfasst und zum Ausdruck gebracht. Die geistige Blindheit manifestiert sich, indem der Mensch sehenden Auges das Wesentliche übersieht und sich dafür, was vor aller Augen liegt, als blind erweist.
Wenn Gott – und später in seinem Namen Jesus – die Blindheit heilt, repariert er nicht die organischen Gebrechen, sondern die geistigen. Deswegen ist er, der Heiland, mehr als ein Heiler. Es geht nicht um medizinische Eingriffe, sondern um „Heilung menschlichen Unvermögens zur Wahrnehmung, Erkenntnis und Kommunikation“, und somit um Blindheit als „eine Metapher für einen sündhaften Mangel an Erkenntnis“, sowie um ein Merkmal der Verstockung, d.h. der Weigerung, sich etwas zeigen bzw. sagen zu lassen (BEUKEN, 342; vgl. Jes 6, 9-10). Gott heilt die geistige Blindheit des Menschen, indem er neu sehen lehrt.
Das neue Sehen schafft eine neue Welt.
So wie ein Übersehen Dinge wie Menschen zur Nicht-Existenz verdammt, hat das Hinschauen die Macht, das in diesem Sinne Nicht-Existente ins Dasein zu rufen. Im Umkehrschluss tritt das bisher Sichtbare in den Hintergrund, die alte Welt tritt hinter die neugeschaffene zurück.
Der Seher lehrt sehen.
Die Vision einer neuen Welt malt vor unseren Augen der Prophet, also der Seher, welcher zunächst als erster selbst schaut. Seine Worte vermitteln eine neue Perspektive und lehren uns so, selbst die Welt neu zu sehen.
Den Anfang macht das Wort.
Somit hat jedes Sehen seinen Beginn in dem Wort, welches meinen Blick ausrichtet und fokussiert und somit mein Sehen wie mein Übersehen orientiert. Dafür ist jedoch nötig, dass die tauben Ohren geöffnet werden (V 5a), und der in seinem Weltbild eingeschlossene Mensch die Botschaft von einer neuen Welt vernimmt.
Exkurs: Die sprachlich qualifizierte Sichtbarkeit steht zugleich für Bedeutsamkeit. Das Sehenswerte erweist sich als bedeutsam oder zumindest bedeutsamer als das, was nicht der Rede und somit auch nicht des Blickes wert ist. Das Wort, welches über Bedeutsamkeit und Bedeutungslosigkeit entscheidet, hat die Deutungshoheit. Deswegen ist auch der atl. Kampf Gottes gegen die Götzen ein Kampf um die Deutungshoheit.
Die Wirklichkeit Gottes wird vor unseren Augen ausgemalt nicht als ein Standbild, sondern als Wirksamkeit, als das dynamische Ereignis der Belebung einer toten Landschaft, der wundersamen Verwandlung der Wüste in einen prächtigen Garten. So richtet sie unseren Blick auf ähnliche Ereignisse und lehrt uns, auf die Spuren Gottes in dieser Welt zu achten.
Gott ist nicht harmlos.
Das Gottesbild, welches uns der Text vermittelt, hat nichts von der Harmlosigkeit des heutzutage allzu oft gepredigten nur „lieben“ Gottes. Jesajas Gott strotzt förmlich vor Kraft und Autorität. Vor den Augen derer, die ihm vertrauen, erschafft er eine neue Welt und vernichtet die alte. Denn dort, wo sich eine neue Welt etabliert, geht die alte notwendigerweise zugrunde. Deswegen kann das Gericht, im Text als Rache bzw. Vergeltung (V 4) bezeichnet, in Hinblick auf die hier entfaltete Phänomenologie des Sehens als die notwendige Konsequenz der Heilshandlung Gottes gedeutet werden. Die dunklen Seiten Gottes stellen eine Begleiterscheinung jedes Heilsgeschehens dar und sind vom Gottesbild nicht zu trennen.
Die Autorität bzw. Göttlichkeit Gottes zeigt sich in dessen Anspruch auf die Deutungshoheit in Hinblick auf die Wirklichkeit (s.o., Exkurs). Die Gefahr, welche Gott für die Mächte der Welt bedeutet, besteht dann darin, dass sein Wort den Menschen die Augen öffnen, sie zum Reden und Handeln bewegt, und so das Vorhandene zu Fall bringt.
Exil und Heimat als Ursymbole.
Der von Gott geheilte Mensch gibt sich nicht mehr zufrieden mit dem Vorhandenen und setzt sich in Bewegung auf der Suche nach der Welt Gottes, in der er die wahre Heimat erblickt. Das, was die Wirklichkeit Gottes charakterisiert, muss hier im Rückgriff auf die gesamtbiblische Tradition postuliert werden: Es handelt sich um eine Welt, in der ich wirklich Mensch sein darf. Angesichts der Möglichkeit einer solchen menschlichen und menschenwürdigen Wirklichkeit, erweisen sich die meisten Weltentwürfe als dürftig und trügerisch, und so wird manche vermeintlich blühende Landschaft als Wüste entlarvt. Deswegen führt der Lebensweg der Gläubigen aus dem Exil dieser Welt in die Heimat bei Gott.
Zion.
Die Heimat der Exulanten ist Zion, der Berg in Jerusalem, auf dem der Tempel JWHs stand. Dieser Ort wurde im Laufe der Überlieferungsgeschichte zum starken Symbol, mit dem sich viele theologische Vorstellungen verbunden haben. Die Vorstellung, welche in diesem Zusammenhang vorrangig anmutet, ist die der Rückkehr in die alte Heimat. Sie ermöglicht eine existentielle Auslegung der Gottesbeziehung im Sinne von religio / re-ligere als einer Rückbindung des Menschen an den Ort seiner ursprünglichen wesenhaften Zugehörigkeit.
Der heilige Weg als Lebensentwurf.
Im Vergleich zum Lebensentwurf derjenigen, die sich im Vorhandenen bequem eingerichtet haben, die also von dieser Art Heimweh nichts verspüren, wird der Glaube als „der heilige Weg“ (V 8) bezeichnet, der nur von den Erlösten gegangen werden wird (V 9). In Hinblick auf das bisher Gesagte sind die Erlösten diejenigen, welche durch das Geschenk der neuen Perspektive frei geworden sind von den Zwängen und Verlockungen des Vorhandenen.
Der Ausdruck „der heilige Weg“ ist singulär; er kommt bei Jesaja nur an dieser Stelle vor. Es handelt sich um einen Terminus technicus für künstlich errichtete, aufgeschüttete Straßen, also für Wege, die die jeweilige Behörde gebaut hat (vgl. BEUKEN, 346). Die Wahl dieses spezifischen Ausdrucks evoziert Assoziationen eines prädestinatorischen Vorgezeichnet-Seins durch Gott bzw. eines Gottes, der mir den Weg bereitet, sowie die Vorstellung einer gewissen Komfortabilität. Ein solches Denken jedoch würde dem dynamischen Charakter der im Text vorgestellten Bilder nicht gerecht werden, und es wäre auch in Hinblick auf die Theodizeeproblematik sowie einer dieser christologisch entsprechenden „Theologie des Kreuzes“ äußerst fragwürdig. Ratsam wäre, das Thema der eschatologisch anmutenden Vision der Leidlosigkeit (V 10) lieber gesondert anzusprechen. Das würde freilich eine andere Schwerpunktgewichtung als die hier vorgeschlagene nach sich ziehen. Sollte das der Argumentationsaufbau der Predigt aber verlangen, so wäre es realistischer und somit glaubwürdiger, dieses Bild im Sinne eines dynamischen Mitseins Gottes zu interpretieren.
Fazit / Predigtaufriss:
Wird das Wort vernommen, so öffnet es die Augen, befreit zur Sprache und setzt in Bewegung (vgl. V 5-6). Die neue Perspektive erschafft eine neue Welt und lässt die alte vergehen. So erschafft sich Gott einen neuen Menschen, der aus der alten Welt ausbricht und sich auf den Weg zu einer neuen, menschlichen Welt Gottes aufmacht, in er die wahre Heimat finden kann. So nimmt es Gott kraft seiner schöpferischen Wortmacht auf mit den Mächten dieser Welt und rettet die Menschen aus deren Zwängen in die Freiheit der wahren Menschlichkeit, die nur in Rückbindung an Gott möglich ist.
Lied-Empfehlungen:
EG: 171, 199, 236, 295, 298, 302, 394, 395.
Singt Jubilate: 36, 38, 46, 129.