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Gott als konstruierte Wirklichkeit

Referat in 13 Thesen


Nachdem im vorigen Referat der philosophische und theologische Abschied von der Substanzontologie gemeinsam angedacht wurde, widmet sich unsere nächste Zusammenkunft der Weiterführung und Zuspitzung des hermeneutischen Ansatzes, dem »Radikalen Konstruktivismus«. Diese in den 80-er Jahren etablierte philosophische Wahrheitstheorie vollzieht nicht nur den Schritt weg von der substanzontologischen Begründung unserer Aussagen, sondern stellt durch die Hervorhebung des konstruktionalen Charakters unseres Zugangs und Umgangs mit der Wirklichkeit die scheinbare Passivität der menschlichen Ereigniserfahrung radikal in Frage. Wir sind – so die radikalkonstruktivistische Zuspitzung der hermeneutischen These – nicht nur die notwendig interpretierenden RezipientInnen der Wirklichkeitsphänomene, sondern müssen bereits als ihre - durch bestimmte Spezifizitäten unserer biologisch-kulturellen Verfassung determinierten und zugleich befähigten - KonstrukteurInnen betrachtet werden. Mit diesem Schritt wird auf dem Gebiet der Theologie auch die Kategorie der Offenbarung als des allein von Gott bewirkten und daher gewissermaßen selbstevidenten Ereignisses in Frage gestellt. Was bleibt von der Theologie, vom Glauben übrig, wenn auch Gott und seine Offenbarung nichts weiter als Konstrukte des Menschen sind? Oder bringt der radikalkonstruktivistische Ansatz neben der Herausforderung auch neue Chancen, d.h. die Perspektive auf neue theologische Denkwege mit sich?


THESE 1 Die Existenz einer bestimmten Wirklichkeit hängt ab von unserer Wahrnehmung(sfähigkeit) derselben. Somit kann die Wahrnehmung(sfähigkeit) als wirklichkeitskonstitutiv und die Wirklichkeit als das Konstrukt des Menschen bezeichnet werden.

Nur das, was wir wahrnehmen, ist für uns auch existent. Und die Wahrnehmbarkeit eines Phänomens ist wiederum abhängig von unserer Wahrnehmungsfähigkeit.

Der radikale Konstruktivismus (RK) entwickelt den hermeneutischen Gedanken (die Interpretationstätigkeit des Menschen als der exklusive Zugang zur Wirklichkeit) dahingehend, dass er sich auf die ontologische Priorität der Interpretation konzentriert und diese hervorhebt. Die Interpretation ist nicht nur eine nachträgliche Aussage über die Beschaffenheit einer – bereits vorfindlichen – Wirklichkeit, sondern sie entscheidet auch schon über das Vorhandensein derselben. Der RK kann als die Akzentuierung der wirklichkeitskonstitutiven Wirkung des Vorverständnisses betrachtet werden.

Der konstruktionale Charakter der Wirklichkeit gilt auch dann, wenn ihre Erfahrung aus der Perspektive des Subjekts einen ereignishaften Charakters einnimmt. Denn auch das Zustandekommen eines Ereignisses als solchen (!) verdankt sich den von dem Subjekt mitgebrachten Voraussetzungen.


THESE 2 Unsere Wahrnehmungsfähigkeit ist ein kulturelles, sprachlichhermeneutisches Gebilde, welches gestaltungs- und bildungsfähig ist und deswegen auch der Gestaltung und Bildung bedarf. Die Bildung bzw. Kultivierung der Wahrnehmungsfähigkeit obliegt der Verantwortung des Menschen.

Aufgrund der primären Stellung der Sprache sowie der kulturellen bzw. kollektiven Vorrangigkeit der Wirklichkeitsinterpretation vor der Erfahrung des Einzelnen kann nicht von der (vorsprachlichen) Unmittelbarkeit der Wahrnehmung ausgegangen werden. In einer sprachlich konstituierten Welt folgt die Ästhetik der Hermeneutik. Da der Mensch auf diese Weise die eigene Wahrnehmungsfähigkeit formen kann, trägt er auch Verantwortung für ihre Herausbildung und Gestaltung.


THESE 3 Die Bildung der menschlichen Wahrnehmungsfähigkeit besteht in ihrer perspektivisch-kritischen (unterscheidenden) Ausrichtung.

Unsere Wahrnehmungsfähigkeit wird sprachlich-hermeneutisch geprägt, sensibilisiert und orientierend ausrichtet, so dass der Mensch gemäß dieser Ausrichtung einen Blick für bestimmte Phänomene bekommt, während andere Bereiche der Wirklichkeit wiederum in den Hintergrund treten oder aus seinem Blickfeld ganz verschwinden. Die hermeneutische Ausrichtung der Wahrnehmung geschieht immer im Zusammenhang mit der Kategorie der Bedeutsamkeit, sie geht also wertend vor.


THESE 3 Die Ausrichtung unserer Wahrnehmung(sfähigkeit) bedeutet ihre Orientierung an einem hermeneutischen Leitprinzip, unter dessen Steuerung sich dem Blick des Subjekts bestimmte Wirklichkeitszusammenhänge erschließen. Dieses Prinzip ist der hermeneutische Schlüssel, welcher sich für die konstruktionalen Wahrnehmungsprozesse als konstitutiv erweist und das Fundament der jeweiligen Wirklichkeit bildet.

THESE 4 Mit der Entscheidung für einen bestimmten hermeneutischen Schlüssel trifft der Mensch zugleich die Entscheidung über die Art seiner Wahrnehmung und letztendlich über die Beschaffenheit seiner Wirklichkeit.

THESE 5 Zu wissen, dass wir auf diese Weise unsere Wirklichkeit konstruieren, verpflichtet dazu, die Konstruktionsprozesse bewusst und verantwortlich zu gestalten.


THESE 6 Dass Wissen um den konstruktionalen Charakter unserer Wirklichkeit hat den Abschied von der Substanzontologie und das Eingeständnis des Konflikts der Interpretationskonstrukte zur Folge, für dessen Lösung neue, d.h. nicht der vermeintlichen Realitätsgemäßheit entnommene, (Wahrheits)kriterien gefunden werden müssen.


THESE 7 Ich plädiere für ein Doppelkriterium der Qualität, welche über die Beschaffenheit und Vertrauenswürdigkeit des jeweiligen Wirklichkeitskonstrukts Auskunft geben kann. Es ist z.E. die Qualität der intendierten bzw. konstruierten Wirklichkeit, welche in der von ihr gewährleisteten Menschenwürdigkeit besteht, sowie z.A. die Qualität des Konstruktionsprozesses selbst, welche sich in der Verantwortlichkeit bzw. Wahrhaftigkeit des konstruktionalen Umgangs mit der Wirklichkeit spiegelt. Beide Aspekte des Qualitätskriteriums stehen in einem gegenseitigen konstitutiven Zusammenhang. Menschenwürdigkeit einer Wirklichkeit: Eine menschenwürdige Welt ist eine solche, in der die Individualität der sie bewohnenden Subjekte je eigenen Lebensraum erhält und sich verantwortlich entfalten darf.

Verantwortlichkeit bzw. Wahrhaftigkeit der Konstruktion: Ein verantwortlicher Umgang mit der Wirklichkeit spiegelt sich in dem wahrhaftigen bzw. redlichen Umgang der Interpretation mit sich selbst. Nur eine Interpretation, die sich zugunsten der Wirklichkeit stets in Frage zu stellen bereit ist, weil sie dieser gerecht zu werden versucht, erscheint mir als wahrhaftig, verantwortlich und vertrauenswürdig. (Beispiel: Text von Walser)

Der gegenseitige konstitutive Zusammenhang beider Aspekte: Ein verantwortlicher Wirklichkeitsumgang bedeutet eine respektvolle Anerkennung der Eigenart ihrer Entitäten einschließlich des Menschen selbst; eine respektvolle Anerkennung der Eigenart der Subjekte ist gleichzusetzen mit einem verantwortlichen Umgang mit der Wirklichkeit.


THESE 8 Beide Aspekte des Qualitätskriteriums verdanken sich dem ihnen zugrundeliegenden hermeneutischen Schlüssel, über dessen Beschaffenheit sie wiederum ihrerseits Auskunft geben. Somit kann der Konflikt der Interpretationskonstrukte als Konflikt der hermeneutischen Schlüssel bezeichnet werden, welcher an der Qualität ihrer wirklichkeitskonstitutiven Leistungsfähigkeit entschieden werden soll.

Es handelt sich um denselben hermeneutischen Schlüssel, welcher sowohl den Umgang der Interpretation mit der Wirklichkeit als auch ihren Umgang mit sich selbst steuert.


THESE 9 Der Konkurrenzpluralismus der Wirklichkeitskonstrukte lässt sich auf eine Basisalternative von Beziehung und Gewalt als zweier elementaren hermeneutischen Verhaltensweisen zurückführen. Der fundamentale Dualismus dieser beiden hermeneutischen Grundprinzipien bedeutet zugleich eine neue Grenzziehung innerhalb des Konflikts der Interpretationen.

Unter Beziehung verstehe ich einen solchen hermeneutischen Umgang mit der Wirklichkeit, welcher sich auf der kritischen Anerkennung ihrer Unverfügbarkeit gründet und unter Vermeidung jeglicher hermeneutischen Vereinnahmung dieser gerecht zu werden versucht.

Unter Unverfügbarkeit verstehe ist die hermeneutische Unabgeschlossenheit d.h. die geschichtlich fundierte Unausinterpretierbarkeit und somit Interpretationsbedürftigkeit der Wirklichkeit, welcher nur mit hermeneutischer Offenheit einer Beziehung begegnet werden kann.

Die Gewalt stellt als die Weigerung, die Unverfügbarkeit des Gegenüber anzuerkennen, seine hermeneutische Vereinnahmung und damit die pervertierte Form der Beziehung dar. Die Grenze zwischen Gewalt und Beziehung verläuft mitten durch alle etablierten Wirklichkeitsinterpretationen bzw. Weltanschauungen.


THESE 10 Eine Wirklichkeitskonstruktion im Sinne des Qualitätskriteriums ist nur in der Orientierung am hermeneutischen Schlüssel der Beziehung und d.h. unter der kritischen Anerkennung der Unverfügbarkeit der Wirklichkeit möglich.

Die Beziehungsfähigkeit des Menschen und die Unverfügbarkeit der Wirklichkeit sind voneinander nicht zu trennen.


THESE 11 Die theologische Umsetzung des rk Ansatzes kann an der Übersetzung in die theologische Begrifflichkeit deutlich gemacht werden: Die perspektivischereignishafte Erschließung der Wirklichkeitszusammenhänge, durch welche jede Wirklichkeit zustande kommt, kann als Offenbarung bezeichnet werden. Der diese Erschließung (durch die hermeneutische Ausrichtung der Wahrnehmung) intendierende hermeneutische Schlüssel hat zugleich die Funktion eines Interpretamentes und ist somit als Offenbarungsbegriff zu bestimmen. Seine zentrale Stellung besteht darin, dass der Konflikt der Interpretationen im Wesentlichen als der Konflikt der Offenbarungsbegriffe aufzufassen ist.


THESE 12 Die Theologie hat zu dem Diskurs der Wirklichkeitsinterpretationen ihren spezifischen Beitrag zu leisten, indem sie die Spezifizität ihres Offenbarungsbegriffs plausibilisiert und seine wirklichkeitskonstitutive Qualität unter Beweis stellt.

Das Spezifikum des christlichen Offenbarungsbegriffs leitet sich ab von dem Spezifikum des diesen vermittelnden Offenbarungsgeschehens. Gott identifiziert sich mit dem hingerichteten Gotteslästerer Jesus, der es im Namen der Liebe – also um Gottes- sowie des Menschen Willen - auch mit dem etablierten Gottesbild aufnimmt. Durch seine Identifikation mit Jesus teilt Gott seine Gottes- und Religionskritik und offenbart damit nicht nur ein ganz neues Gottes- und Menschenbild, sondern authorisiert zugleich diese radikale Form des mündigverantwortlichen Umgangs mit der Wirklichkeit als ihr schöpferisches Konstitutionsprinzip. Die Kurzform dieses hermeneutischen Schlüssels, die Metapher „Jesus Christus“, stellt die anstößig-produktive schöpferische Kraft der mündigen Gott-Mensch-Beziehung in ihrer Unüberholbarkeit dar, ist nämlich das, was sich stets aus der eigenen inneren Dynamik heraus selbst überholt, in der Tat als unüberholbar zu bezeichnen. Die Wahrhaftigkeit des christlichen Offenbarungbegriffs „Jesus Christus“, welche auf der kritischen Berücksichtigung der (möglichen) Opfer seiner selbst beruht, begründet zugleich seine Unkorrumpierbarkeit. Auch lässt sie darauf schließen, dass als das konstruktionale Produkt eines solchen schöpferischen Prinzips eine menschenwürdige, weil wahrhaftig menschliche Wirklichkeit angenommen werden kann. In dieser Radikalität der Ausprägung einer humanen wirklichkeitskonstitutiven Leistungsfähigkeit besteht der spezifische Beitrag des christlichen Offenbarungsbegriffs zu dem Diskurs der Interpretationen.


THESE 13 Die dogmatischen Konsequenzen, welche sich aus dieser rk Neuakzentuierung des offenbarungstheologischen Ansatzes ergeben, in aller Kürze: Offenbarungstheologie: von der Begründungsauthorität des Offenbarungsbegriffs zu seiner wirklichkeitskonstitutiven Leistungsfähigkeit. Die offenbarungskonstitutive Bedeutung von notwendigen – nicht: hinreichenden (!) - , vom Menschen zu verantwortenden, anthropologischen Voraussetzungen der Möglichkeit von Offenbarung ist im besonderen Maße zu berücksichtigen. Gotteslehre: Die Abhängigkeit Gottes von der Wahrnehmungsfähigkeit des Menschen bildet die Konsequenz seiner immanenten Beziehungsfähigkeit sowie die von Gott gestiftete Grundlage der Menschwerdung im Sinne von Menschlichkeit als verantwortlich-mündigen Beziehungsfähigkeit, d.h. Mitmenschlichkeit. Gott als das Woher des Konstruierens macht sich zum Konstrukt des Menschen, um seine Menschlichkeit zu stiften. Gott in Jesus Christus tut dies in einer unüberbietbaren bleibend schöpferischen Radikalität. Schöpfungslehre: von der materialen Interpretation der Schöpfung zu einer konstruktivistischen. Schöpfungsakt als Ermöglichung einer Wahrnehmungsfähigkeit, welche die Wirklichkeit als Schöpfung Gottes zu vernehmen vermag. Eschatologie: Der Offenbarungsbegriff „Jesus Christus“ als das einzig effiziente hermeneutisch-schöpferische Prinzip einer ewigkeitsrelevanten d.h. bleibend lebensermöglichenden Wirklichkeit. Christologie: von der von Heilsmagie einer Sühneopfertheologie zu einer gottgemäßen Protesthaltung als dem Ausdruck der Mitmenschlichkeit. Die Haltung, welche Gott vom Menschen an dieser Stelle erwartet, ist die eines mündigen, verantwortungsvollen und liebenden Subjekts, welches in Namen der Liebe gegen diesen Tod protestiert und ggf. auch auf seine vermeintlich durch diesen Tod erlangte Seligkeit zu verzichten bereit ist.

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