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▐PREDIGT ZU Jona 3, 1-10 , Borgsdorf 26. Juni 2022

Gnade sei mit euch

und Friede von Gott, unserem Vater,

und dem Herrn Jesus Christus. AMEN

- 1. -

Liebe Gemeinde, Wahrheit und Glaubwürdigkeit von historischen Berichten besteht darin– darin sind wir uns sicher alle einig - , dass sie beschreiben was einmal, also zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort geschah. Wie steht es aber um die Wahrheit der anderen Literatur d.h. derjenigen Geschichten, die sich nicht dokumentarisch auf bestimmte historische Tatsachen beziehen, und sich offen als fiktiv, also als ausgedacht zu erkennen geben? Sind diese nicht wahr, weil sie erfunden sind? Sind sie deswegen viel weniger von Bedeutung, und dienen lediglich der Unterhaltung?

Die Menschen der heutigen Zeit denken im Allgemeinen leider immer noch so. Die Wahrheit des modernen Menschen wird mit Faktizität gleichgesetzt. Mit historischer und naturwissenschaftlicher Nachweisbarkeit. Dieser dermaßen verengte Wahrheitsbegriff sorgt dafür, dass ein gewaltiger Teil unseres geistig – kulturellen Erbes aus dem Bereich des Wahren und Ernstzunehmen ausgeschlossen und höchstens auf einen Unterhaltungswert herabgewürdigt.

Unsere Vorfahren, ja, im Grunde Menschen aller Zeiten, bis in die Neuzeit, dachten im Vergleich zu uns, den sogenannten aufgeklärten Menschen, nicht so eng von der Wahrheit, und „Wahr“ und „erfunden“ war für sie kein Gegensatz.

Ein gehöriger Teil der heutigen Forscherinnen und Wissenschaftler ist Gott sei dank inzwischen auch der Einsicht, dass Wahrheit mehr ist, als bloße naturwissenschaftliche und historische Faktizität. Und sie fangen an zu mahnen, dass wir uns selbst sowie unserer Lebenswirklichkeit durch die Festlegung der Wahrheit auf das bloß Faktische keinen Gefallen tun. Nun wird innerhalb der Wissenschaften langsam auch das Fiktive, das Erfundene und Ausgedachte ebenfalls als wahr betrachtet, wenn auch von einer anderen Art der Wahrhaftigkeit. Aber was für Wahrheit steckt in Geschichten, Legenden, Mythen oder gar Märchen?

Vielleicht kennen Sie bereits den schon fast sprichwörtlich bekannten Satz: Die Historie erzählt davon, was einmal geschah; die Geschichten und Mythen erzählen davon, was immer geschieht. Sie bringen also etwas von der ewigen, Zeiten überdauernden Wahrheit zum Vorschein, die man auch als Lebenswahrheit bezeichnen kann. Deswegen sollen sie für uns nicht nur Unterhaltung sein, sondern Orte, an denen wir der Wahrheit des Lebens immer wieder neu begegnen, und Quellen, aus denen wir Orientierung und Kraft für unsere Existenz neu schöpfen können.

Der heutige Predigttext ist eine kurze Episode aus einer Geschichte, die auch offen und offenkundig keinen Anspruch auf historische Glaubwürdigkeit erhebt. Sie handelt von einem Propheten Namens Jona, der sich weigert, Gottes Auftrag zu erfüllen, und anstatt sich mit einer Unheilsbotschaft in die Stadt Ninive aufzumachen, flieht er in die entgegengesetzte Richtung, um diesem Auftrag und Gott zu entkommen. Jedes christlich erzogene Kind weiß, wie es dann weiter geht. Jona wird gefunden, landet im Bauch eines großen Fisches, wo er drei Tage Zeit hat, wieder zur Vernunft zu kommen.

… Hier wird schon mal eine dem gläubigen Menschen recht vertraute Lebenswahrheit in Erinnerung gerufen; und zwar auf eine – so würde ich behaupten – unterhaltsame, humorvolle Weise: Wenn Gott uns an einem bestimmten Ort braucht, so wird er auch noch so merkwürdige Wege finden, um uns dahin auch zu befördern, wo er uns haben will – selbst wenn es der Bauch eines großen Fisches sein sollte.

- 2. -

Ungefähr an dieser Stelle setzt unser heutige Predigttext an. Ich lese ihn in der revidierten Übersetzung Martin Luthers: 1Und es geschah das Wort des Herrn zum zweiten Mal zu Jona: 2Mach dich auf, geh in die große Stadt Ninive und predige ihr, was ich dir sage!3Da machte sich Jona auf und ging hin nach Ninive, wie der Herr gesagt hatte. Ninive aber war eine große Stadt vor Gott, drei Tagereisen groß.4Und als Jona anfing, in die Stadt hineinzugehen, und eine Tagereise weit gekommen war, predigte er und sprach: Es sind noch vierzig Tage, so wird Ninive untergehen. 5Da glaubten die Leute von Ninive an Gott und riefen ein Fasten aus und zogen alle, Groß und Klein, den Sack zur Buße an.6Und als das vor den König von Ninive kam, stand er auf von seinem Thron und legte seinen Purpur ab und hüllte sich in den Sack und setzte sich in die Asche 7 und ließ ausrufen und sagen in Ninive als Befehl des Königs und seiner Gewaltigen: Es sollen weder Mensch noch Vieh, weder Rinder noch Schafe etwas zu sich nehmen, und man soll sie nicht weiden noch Wasser trinken lassen; 8 und sie sollen sich in den Sack hüllen, Menschen und Vieh, und heftig zu Gott rufen. Und ein jeder kehre um von seinem bösen Wege und vom Frevel seiner Hände! 9 Wer weiß, ob Gott nicht umkehrt und es ihn reut und er sich abwendet von seinem grimmigen Zorn, dass wir nicht verderben.10Als aber Gott ihr Tun sah, wie sie umkehrten von ihrem bösen Wege, reute ihn das Übel, das er ihnen angekündigt hatte, und tat’s nicht.

- 3. -

...Liebe Gemeinde, mit diesem Text ist es wie mit allen biblischen Texten: Je mehr man sich mit ihm beschäftigt, desto mehr entdeckt man in ihm. Irgendwann mal ist es für eine einzige Predigt zu viel. Also musste ich auch schon wieder eine Auswahl treffen, vieles auslassen, um mich zusammen mit Ihnen auf einige wenige Gedanken zu konzentrieren.

Der erste Gedanke, welcher nicht übersehen werden darf, steht gleich am Anfang unserer Perikope: Und es geschah das Wort des Herrn zu Jona. Das Wort des Herrn geschieht. - eine interessante, bedenkenswerte und wahre Formulierung, welche uns so oder sinngemäß ähnlich in Bibel immer wieder begegnet. Denn, in der Tat, wie sollen wir es beschreiben, wenn und dass Gott zu uns spricht? Flüstert da jemand einem ins Ohr? Oder wird uns ein Zettel mit Botschaft zugesteckt? Die Wege, auf welchen unsere, menschliche Kommunikation stattfindet, sind nicht die Wege des Wortes Gottes. Das wussten die biblischen Autoren und Autorinnen, und haben sich deswegen nicht wenig Mühe gemacht, eine solche Situation der Anrede Gottes angemessen zu schildern. Die Situation einer Anrede, die aber keine Anrede ist, wie wir sie aus unserem Alltag kennen.

… Der Autor dieses Textes entscheidet sich angesichts der Grenzen, an die die menschliche Sprache stößt, für diese wunderbare, ja geradezu moderne philosophische Formulierung: Das Wort Gottes geschah. Wie das Wort geschieht, das kennen Sie vielleicht aus den Schlüsselsituationen ihres Lebens. Aus Situationen, in denen sich das Leben radikal ändert, unser Lebensweg eine neue Richtung nimmt, die Weichen neu gestellt werden.

In solchen Umbruchsituationen unseres Lebens wird oft eine Entscheidung erst allmählich spruchreif. Erst ist es eher eine Art Unruhe, die uns immer wieder beschleicht, dann eine wage Ahnung, dann aber langsam formt sich in unserem Inneren das Wort der Entscheidung, die wir dann treffen und vollziehen, wenn aus dem diffusen Gefühl ein klarer Gedanke, ein Wort wurde. Das Wort geschieht.

Und manchmal wiederum ist dieses Geschehen des Wortes kein langsamer Reifungsprozess, sondern ein jähes Ereignis, dass mich trifft, unterbricht, von Kopf stößt und überwältigt. „Saul, Saul, warum verfolgst du mich?“ - dieser Satz verändert das Leben des Saulus dermaßen, dass er von einem Christenverfolger zum berühmtesten christlichen Missionar wird, und ab jetzt als Paulus weiter existiert.

Wenn das Wort so geschieht, verändert es die Welt. Wie? Indem es den Menschen verändern, seine Haltung, seine Sicht, seine Gesinnung, biblisch gesprochen, sein Herz. Und ein durch das Wort Gottes veränderter Mensch denkt und handelt anders und fängt an, die Welt anders zu gestalten. Wir kennen sie, und Gott sei Dank gibt es sie, die Geschichten, die die Welt veränderten. Natürlich denken wir zunächst an die prominenteste alles solcher Geschichten: die Geschichte eines jungen Mannes aus Nazareth, die die Welt in ihren Fundamenten erschütterte.

Ich jedoch möchte ganz kurz eine andere Geschichte erwähnen: Die Geschichte eines arabischen Mädchens Namens Wadjda. Dieses Mädchen existierte nicht wirklich. Aber es hätte jedes Mädchen dieser Welt sein können. Sie, die kleine Wadjda hatte einen Traum: Ein Fahrrad. Sie sah es von weitem, wie es angeliefert wurde, und verliebte sich unsterblich in das wunderbare roserne Ding auf zwei Rädern. Zu dem Fahrradverkäufer, der dieses Fahrrad für seinen Laden bestellte, sagte sie, er soll es nicht verkaufen, denn sie würde sicher, sicher eines Tages kommen und es kaufen.

Das Problem hier war jedoch nicht – wie man zunächst vermuten würden - das fehlende Geld, sondern die Tatsache, dass es Mädchen und Frauen Saudi Arabiens verboten war, Fahrrad zu fahren. In dieser Geschichte jedoch, die verfilmt wurde, wurde der Traum der kleinen Wadjda wahr. Sie bekam ihr Fahrrad und fuhr glücklich durch die Stadt, den Wind und die Freiheit in den Haaren spürend.

Eine schöne, ausgedachte Geschichte. Und nichts mehr als das? Die Wahrheit ist, dass unter der Wirkung dieser Geschichte in der Tat Saudi Arabien kurz danach die Entscheidung fiel, Frauen und Mädchen das Fahrradfahren zu erlauben. So hat diese Geschichte - die Regie hierzu führe eine mutige Frau - die Welt verändert. Das Wort hat sich ereignet und zeigte eine so starke Wirkung, dass es sogar die politischen und religiösen Mauer wenn nicht schon gänzlich nieder riss, so schlug es wenigstens ein beachtliches Loch in diese Mauer, das nicht so schnell gestopft werden kann. Die andere Wahrheit als die der historischen Faktizität ist hier die Wahrheit der Utopie, also einer Geschichte, die zeigt, wie die Welt sein könnte. Solche Geschichten beflügeln unsere Sehnsüchte und Träume und bewegen die Menschen, wenigstens zu versuchen, sie zu verwirklichen. Und so werden sie dann auch wirklich wahr.

- 4. -

...Sehr merkwürdig und ebenfalls unwirklich bzw unrealistisch wirkt hier der vorläufige Happy end unseres Predigttextes. Die radikale Umkehr, der allumfassende Gesinnungswandel – wie schön wäre es, wenn es so glatt funktionieren würde. Realpolitisch – gerade angesichts der aktuellen politischen Situation - wohl wirklich eine Utopie.

Und doch kommt auch hier eine Lebenswahrheit zum Vorschein. Die Wahrheit von der sogenannte erfüllten Zeit – die viele Geschichten, ja, sogar Märchen bezeugen. Hier muss ich ein wenig ausholen. Das klassische griechische Denken kennt zwei Zeitbegriffe. Chronos und Kairos. Chronos, davon das Wort Chronologie, ist die Zeit in der Abfolge einer tickenden Uhr, unterteilt in regelmäßige Zeitabschnitte. Kairos, ist das, was wir eher als den richtigen Augenblick bezeichnen würden. Wir wissen um die wundersame Wirkung des richtigen Augenblicks. Da wollen wir von einem Menschen, der uns wichtig ist, verstanden werden, reden uns den Mund fusllig, und plötzlich lassen wir spontan fast unbemerkt in einer bestimmten Situation einen Satz fallen, und unser bis dato hartnäckiges, verstocktes Gegenüber wird nachdenklich, und sieht endlich, wofür es bis dahin blind war.

Der richtige Augenblick zeichnet sich aus durch die Leichtigkeit, ja fast Selbstverständlichkeit, mit der das geschieht, was bis dahin fast für unmöglich gehalten wurde. Als die Zeit erfüllt war. Da ging es fast wie von selbst. Da ging ein junger Prinz und siehe, die Rosenbüsche, welche die anderen junge Männer unter sich begraben haben, gingen ihm wie von alleine aus dem Weg. Denn die 100 Jahre des Fluches waren um. Die Zeit war erfüllt. Im richtigen Augenblick ereignet sich das vermeintlich Unmögliche. Jona kam in die Stadt Ninive, rief seine Botschaft, und die Dinge nahmen sofort ihren Lauf. Die Gnade des richtigen Augenblicks, der Segen der erfüllten Zeit. Ja, es gibt sie. Und es lohnt sich, auch in unserem Leben auf sie zu setzen. Auch daran, an diese Wahrheit, erinnert uns unser Predigttext.

5. -

Und noch ein Gedanke, auf den ich Sie aufmerksam machen möchte: Lesen wir richtig im letzten Vers der Perikope? Gott bereut? Gott kehrt um? Gott ändert seinen Entschluss, seine Meinung und verschont die Stadt? Heißt das, Gott hat vorher eine falsche Entscheidung getroffen, und muss sie nun ändern, ja, gar bereuen? Kann Gott so sein? Ist Gott nicht unfehlbar?

Möglicherweise finden Sie diese Formulierung auch ziemlich irritieren und mit Ihrem eigenen Gottesbild nicht übereinstimmend. Ein Hinweis, der Ihnen bei weiterem Nachdenken vielleicht hilfreich sein könnte, betrifft das Verb reuen bzw. den Ausdruck „es reute ihn, also Gott“. Das entsprechende hebräische Verb bedeutet hier ursprünglich so etwas wie aufatmen. Aufatmen, nach dem man vorher die Luft angehalten hat. Das finde ich äußerst spannend. Es klingt, als hätte Gott selbst gespannt den Atem angehalten in der Erwartung, wie die Geschichte Ninives nun ausgeht. Ninives Bevölkerung kehrt um, ändert radikal ihren Lebenswandel, und Gott atmet erleichtert auf.

Der tschechische Theologe Tomás Halík spielt in seinem Buch „Theater für Engel“ mit einer dazu passenden Vorstellung. Stellen Sie sich vor, wir, die Menschen dieser Welt befinden uns aus der Perspektive Gottes wie auf einer großen Bühne, und unser Publikum sind Engel, die unserer Handlung gespannt zuschauen. Sie lachen mit, sie weinen mit uns, sie hoffen, wenn wir verzweifeln, sie atmen erleichtert auf, wenn die Gefahr vorbei ist. Schon Martin Luther sprach von einem Leben coram Deo, einem Leben vor Gott. Wie schön wäre es, wenn wir vor Gott so leben und handeln, und unsere Lebensentscheidungen so treffen, dass Gott ganz oft erleichtert aufatmen kann.

6. -

Also, denken wir gering von Geschichten, denken wir nicht gering von Worten. Sagen wir nicht, das ist doch nur eine Geschichte, es sind nur Worte. Wir, die verwöhnten Kinder des reichen Spaßgesellschaft, haben möglicherweise längst den Sinn für die furcht- und hoffnung einflößende Kraft des Sprache verloren. Aber schauen wir uns bloß um unsere Insel der Seeligen herum, und da sehen wir es: Die mächtigsten Machthaber, ja ganze Weltmächte erzittern vor dem wahrhaftigen Wort, denn es besitzt offenbar mehr Kraft als eine ganze Armee. Seine Kraft ist die Kraft der Wahrheit, welche zum Handeln motiviert.

Geschieht das richtige Wort zur richtigen Zeit, so ändert sich alles. Blinde sehen das, wofür sie bisher blind waren. Taube hören, wofür sie bisher taub waren. Die vor Angst oder Bequemlichkeit gelähmten setzen sich in Bewegung. Die vor Angst verstummten, fangen an, zu reden. Die Welt wird anders. Und Gott atmet erleichtert auf. Wäre das nicht wunder-bar? So möge mit Gottes Hilfe immer und immer wieder so ein Wunder geschehen. Und wenn nötig, auch mit unserer Hilfe. AMEN

 Predigt zu Jona 3, 1 - 10

1Und es geschah das Wort des Herrn zum zweiten Mal zu Jona: 2Mach dich auf, geh in die große Stadt Ninive und predige ihr, was ich dir sage!3Da machte sich Jona auf und ging hin nach Ninive, wie der Herr gesagt hatte. Ninive aber war eine große Stadt vor Gott, drei Tagereisen groß.4Und als Jona anfing, in die Stadt hineinzugehen, und eine Tagereise weit gekommen war, predigte er und sprach: Es sind noch vierzig Tage, so wird Ninive untergehen. 

5Da glaubten die Leute von Ninive an Gott und 

riefen ein Fasten aus und zogen alle, Groß und Klein, den Sack zur Buße an.6Und als das vor den König von Ninive kam, stand er auf  von seinem Thron und legte seinen Purpur ab und hüllte sich in den Sack und setzte sich in die Asche 7 und ließ ausrufen und sagen in Ninive als Befehl des Königs und seiner Gewaltigen: Es sollen weder Mensch noch Vieh, weder Rinder noch Schafe etwas zu sich nehmen, und man soll sie nicht weiden noch Wasser trinken lassen; 8 und sie sollen sich in den Sack hüllen, Menschen und Vieh, und heftig zu Gott rufen. Und ein jeder kehre um von seinem bösen Wege und vom Frevel seiner Hände! 9 Wer weiß, ob Gott nicht umkehrt und es ihn reut und er sich abwendet von seinem grimmigen Zorn, dass wir nicht verderben.10Als aber Gott ihr Tun sah, wie sie umkehrten von ihrem bösen Wege, reute ihn das Übel, das er ihnen angekündigt hatte, und tat’s nicht.

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