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Was fehlt, wenn Gott fehlt?


Es ist wie bei allen Krisen des Geistes: Augenscheinlich und vordergründig mangelt es uns an nichts. Das Leben geht weiter, der Alltag folgt seinem gewohnten Gang. Wenn aus der Krise eine Katastrophe wird, bricht sie nicht über uns herein mit dem Getöse einer Naturgewalt, sondern sie schleicht sich heran und dringt leise und unbemerkt in unser Innerstes. Etwas geht uns an die Substanz und dringt damit zugleich in das Herz der Dinge. Und während sich die Welt in ihrer unbesorgt besorgenden Geschäftigkeit weiter dreht, fängt ganz tief in uns etwas an, allmählich zu verkümmern. Ein stilles Absterben findet statt dort, wo die Menschwerdung des Menschen sonst ihren Anfang nahm.


Wie bei allen Katastrophen des Geistes sind wir auch jetzt nicht nur die von ihnen Heimgesuchten, sondern gleichsam deren Vollstrecker. Daher rührt auch unsere doppelte Blindheit: Nicht nur sehen wir nicht, was mit uns geschieht, sondern und vor allem sehen wir auch nicht, dass wir nicht sehen. Und blind für die eigene Blindheit halten wir uns konsequenter Weise für klar sehend. Die Mahnungen der wenigen Achtsamen – wir nennen sie Kulturpessimisten – sind für uns höchstens von einem fragwürdigen Unterhaltungswert. Gefangen im Aberglauben der nun erreichten Klarsicht, welchen wir fälschlicher Weise für Aufgeklärtheit halten, blicken wir mit besserwisserischer Überlegenheit herab auf die Welt, wie sie war, bevor wir sie und uns durch die Vertreibung Gottes aus unserem Selbstverständnis neu erfanden. Denn mit dem Glauben an die Aufgeklärtheit, die wir mit der Pflicht zur steten Aufklärung verwechseln, haben wir ebenso bereitwillig und ungeachtet der zur Vorsicht mahnenden Stimmen der besten Denker und Denkerinnen auch die Überzeugung von der nun erreichten Freiheit von Gott angenommen.


Anfangs gibt es sie noch: die kurz aufleuchtenden Augenblicke der Besinnung, in denen die Siegestrunkenheit der Ernüchterung weicht, und wir uns der Überforderung bewusst werden, die wir uns mit der Entscheidung für die Gott-losigkeit selbst aufbürden. Ist nämlich Gott vertrieben oder tot, so fällt es dem Menschen zu, seine Stelle einzunehmen. Angesichts der jetzt einzulösenden Selbstverpflichtung zur Gottgleichheit versagt jede noch so souveräne Eigenmächtigkeit. Sie kapituliert zwangsläufig vor der Unbändigkeit und Uneinholbarkeit des Unverfügbaren, welches es kraft der usurpierten Göttlichkeit zu beherrschen gilt. Das Unverfügbare, diejenige Dimension der Wirklichkeit, deren ereignishaftes Eintreten in unsere Lebenswirklichkeit sich jeglichem Zwang seitens des Menschen entzieht und uns gerade deswegen wesenhaft prägt, nenne ich Transzendenz. Sie verleiht uns und unserer Wirklichkeit eine ereignishaft eigenwillige Qualität und damit auch Bedeutsamkeit und Würde. Durch ihre Wirkung sind und bleiben auch wir uns selbst unverfügbar.


Durch die Erfahrungen der unbezwingbaren Wirkkraft der Transzendenz werden wir uns der metaphysischen Überforderung bewusst, welche unsere selbstgewählte Gottgleichheit kränkt. Beide, die Kränkung und die Überforderung, werden begleitet und verstärkt vom Gefühl einer metaphysischen Einsamkeit. Denn die Existenz des gottlos-gottgleichen Menschen findet statt im Modus einer kosmischen Obdachlosigkeit inmitten eines eiskalt gleichgültigen Universums. Sie wurde uns einst als die heroische Existenz eines zur Stärke und Autonomie gereiften Individuums vorausgesagt. Der starke gott-lose Mensch würde – der Tatsache seiner kosmischen Einsamkeit entschlossen ins Auge blickend – dieselbe als seine Befreiungschance ergreifen und sich selbst zum Gesetzes-, Werte- und Sinnstifter werden. In der erlangten Autonomie würde er sich endgültig als eines Gottes nicht (mehr) bedürftig erweisen und bewähren. Doch weit entfernt davon, eine solche creatio ex nihilo seiner selbst aus sich selbst zu vollziehen, schielt der seine Souveränität demonstrierende Mensch stets nach Begründungsinstanzen, an denen er seine Menschwerdung ausrichten kann. Und es gibt nicht wenige „Götter“, die nur darauf warten, nach ihm greifen und ihn nach ihrem Bild formen zu können.


Die Erfüllung der Verheißung einer göttlichen Autonomie scheint endgültig auszubleiben, und es drängt sich immer stärker die Frage auf, ob es sich hier doch nicht um eine tragische Fehleinschätzung bzw. eine metaphysische Überschätzung handelt, die dringend revidiert werden müsste. Denn die Quintessenz, welche aus all´ den verstörenden Erfahrungen unserer Unzulänglichkeit zu ziehen wäre, lautet: Mit der Entscheidung für die Gottlosigkeit werden wir nicht automatisch auch unsere Gottbedürftigkeit los. Das wird in den Augenblicken der schmerzhaften metaphysischen Luzidität zumindest spürbar.


Um dem abgründigen Schmerz und der ängstigenden Unheimlichkeit solcher Augenblicke zu entkommen, lernen wir schnell, unsere überraschend fragile Selbstsicherheit vor derartigen Störungen zu schützen. Wir fangen an, solche Momente zu meiden, ja, besser schon ihrer Möglichkeit aus dem Wege zu gehen. Da aber jeder Zustand der Bewusstheit die Möglichkeit der existentiellen Klarsicht in sich birgt, wird die Wachsamkeit des Geistes intuitiv als Gefahrenquelle erfasst und der Betäubungskur durch Geschäftigkeit, Lärm und Konsum unterzogen.


Durch diese verheerende Vermeidungsstrategie brechen wir aber die Verbindung zu denjenigen Bereichen unseres Selbst ab, die sich als Quellen der existentiellen Geistesgegenwärtigkeit erweisen, und beschneiden damit uns selbst um die ihr innewohnenden (Existenz)möglichkeiten. Es ist zunächst die Selbstreflexivität des Menschen, deren Durchlässigkeit für Impulse und Anstöße von außen für uns zur steten Bedrohung werden könnte auf unserem Weg zu der verheißenen autarken Glückseligkeit. Deswegen fängt das Denken an, sich möglichen externen Verunsicherungen zu verschließen. Wenn sich aber das Denken in absolutistischer Manier der kritischen Selbstüberprüfung verweigert, hört es nicht eigentlich auf, zu denken? Verkommt es nicht zum unfruchtbaren Memorieren und schließlich zur Irrationalität?


Der Verzicht auf die kritische Selbstreflexivität hat nachhaltige Folgen. Die Reflexivität ist nämlich nicht nur für Verunsicherungen und Irritationen, sondern gleichermaßen für Inspiration und Bereicherung durchlässig, ohne die die Menschwerdung schlicht nicht denkbar ist. Mit der Absage an diese dialogische Dimension des Denkens wird der Prozess der Menschwerdung als der (Selbst)transzendierung unterbrochen und schließlich zum Stillstand gebracht. Es kommt zum Stillstand des geistigen Wachstums, der auch unsere Sprach-, Beziehungs- und Wahrnehmungsfähigkeit infiziert.

Die Sprache, welche ebenfalls von einer schöpferischen Selbstüberschreitung lebt, verliert in Folge der reflexiven Transzendenzverweigerung ihre Aussagekraft und degeneriert zum Konglomerat aus nichtssagenden Klischees. Damit verzichtet sie auf den heuristischen Vorgriff auf die Möglichkeit und beschwört stattdessen die vermeintliche Letztgültigkeit des Vorhandenen. Damit macht sie blind für die zur Verwirklichung drängenden Potentiale.


Auf diese Weise entfaltet sie ihre reduktive, nivellierende Wirkung auf die Gestalt der Wirklichkeit einschließlich des Menschen und seiner Lebensqualität. Ein unheilvoller Kreislauf tritt zutage: Wie in einer – durch die beziehungslose Sprache – verarmten Wirklichkeit nur eine armselige Existenz möglich ist, generiert die sprachliche Verarmung ihrerseits eine ihr entsprechende unterkomplexe und in jeglicher Hinsicht trostlose Welt. In Folge der transzendentalen – d.h. auf die Unverfügbarkeit gerichteten – Beziehungslosigkeit unserer sprachlich-kognitiven Ressourcen schrumpft auch unsere Wahrnehmungskompetenz, so dass wir schließlich nur noch das wahrzunehmen im Stande sind, worauf uns die verarmte Sprache noch zu sensibilisieren vermag.

Der Verzicht auf die Selbstreflexivität, die Verarmung der Sprache und der Wahrnehmung sowie eine entsprechende Nivellierung der Wirklichkeit sind auf unser Verhalten gegenüber der Unverfügbarkeit, d.h. auf die Qualität unseres Transzendenz-Verhältnisses, zurück zu führen. Da wir uns nämlich dem Unverfügbaren nicht entziehen können, bleibt die Bindung zwischen der Transzendenz und uns – ob wir wollen oder nicht – auch dann bestehen, wenn wir uns ihr entziehen oder ihr entledigt zu haben glauben. Im Grunde stellt auch die Verweigerung oder die Leugnung der Transzendenz bzw. unserer Bindung an sie einen Vollzug derselben dar. Ich nenne diese Bindung die Transzendentalität.


Entscheidend jedoch ist nicht die pure Vorhandenheit der menschlichen Transzendentalität, sondern ihre Qualität. Wir stehen in Hinblick auf die Transzendenz stets vor der Wahl zwischen zwei grundsätzlichen Modi unseres Sich-Verhaltens zu ihr: Entweder treten wir mit ihr in einen vorsichtig-kritischen Dialog, oder wir verharren in einer abwehrenden Verschlossenheit gegenüber ihrer fremdartigen Wirkung, da wir unser Wirklichkeits- und Selbstbild vor ihr schützen zu müssen glauben. Die stete dialogische Auseinandersetzung des Menschen mit dem, was sein Denken überschreitet, nenne ich Beziehung im eigentlichen Sinne. Sie ist die einzig mögliche Weise der Bindung an die Unverfügbarkeit, weil nur sie ihr und ihrem ansprechend-dialogischen Charakter wirklich entspricht. Die Verweigerung der Beziehung nenne ich Gewalt, weil sie einen Versuch darstellt, mittels Leugnung, Diskreditierung oder Vereinnahmung über die Transzendenz – als auch die Transzendentalität – zu verfügen. Mit der Alternative von Beziehung und Gewalt stehen wir vor der schicksalhaften Grundsatzentscheidung zwischen Unverfügbarkeit und Verfügbarkeit, mit welcher wir uns auf eine bestimmte Beschaffenheit der Wirklichkeit sowie die Gestalt des Menschseins festlegen.


Wir haben es also im Falle der Transzendenz mit einem Absoluten zu tun. Ein Absolutes kann weder eliminiert noch entmachtet werden und bleibt selbst als Abwesendes im Modus der bestehenden transzendentalen Bindung (Transzendentalität) ungebrochen wirksam. Deswegen handelt es sich bei der Leugnung der Transzendenz um einen unreflektierten und blinden Vollzug der Transzendentalität, der die Entfesselung ihrer dunklen, zerstörerischen Seite zu Tage fördert. Denn während die Bewusstmachung und das Eingeständnis der Transzendentalität einen bewussten, kritischen und verantwortlichen Umgang mit derselben (Beziehung) möglich machen, kann sie uns jetzt, da wir uns ihrer entledigt zu haben glauben (Gewalt), entgleiten und unbemerkt sowie unkontrolliert im Schatten eben dieses Glaubens fortwirken, bis sie sich unserer schließlich gänzlich bemächtigt.


Als ein fundamentales existentielles Vertrauensverhältnis stellt der Glaube eine nicht eliminierbare anthropologische Konstante dar. Wird er weder kontrolliert noch kultiviert, gerät er aus den Fugen und macht den Menschen anfällig für jede Manipulation, die seiner vermeintlichen Autonomie schmeichelt und sich passend zu ihr als Glaubens- und Gottlosigkeit ausgibt. Gerade der Glaube an die eigene Glaubenslosigkeit führt zum enormen Anwachsen idolatrischer Strukturen und zur regelrechten Entfesselung ideologischer Empfänglichkeit. Daher schweben wir mehr denn je in der Gefahr – unserem unbändig unkontrollierten transzendentalen Drang blind folgend – im Glauben an die eigene Gott-losigkeit neuen „Göttern“ zu dienen, im Glauben an die Faktizität den als Fakten etikettierten Ideologien zu vertrauen und sich in eine als Freiheit angepriesene Unmündigkeit zu begeben.


Das Unternehmen der Absage an die Transzendenz und Transzendentalität des Menschen scheitert also an eben denselben. Und es scheitert so, dass es paradoxer Weise als pervertierter, weil unreflektierter Vollzug derselben gelingt. Wenn wir also der Transzendenz bzw. Unverfügbarkeit mit Gewalt statt mit Beziehung begegnen, verwandelt sich ihre schöpferische Kraft konsequenter Weise in eine zerstörerische. Wenn wir auf diese Weise der Transzendenz Gewalt antun, tun wir gleichsam uns selbst Gewalt an.


Solange jedoch das Menschsein des Menschen unter allgemeiner Zustimmung an dem Ideal der verantwortlichen Existenz eines mündigen Individuums gemessen wird, kommen wir nicht herum um die Beziehungsfähigkeit des Menschen als die fundamentale Bedingung des Menschseins. Das bedeutet, ohne die Beziehungsfähigkeit als den Modus unseres Selbst- und Weltverhältnisses wären weder die Menschlichkeit des Menschen noch die der Welt möglich. Die Beziehungsfähigkeit als die Bereitschaft, die unverfügbare Andersheit des Anderen anzuerkennen und sich mit ihr kritisch-dialogisch auseinanderzusetzen, ist aber ohne die Kategorie der Unverfügbarkeit bzw. die Transzendenz nicht zu denken. Das bedeutet vor allem, dass der hier ermittelte Zusammenhang zwischen der Beziehungsfähigkeit, der Mündigkeit und der Menschlichkeit notwendiger Weise auf der Kategorie der Transzendenz bzw. der Unverfügbarkeit gründet. So kann schematisch festgehalten werden: Ohne Transzendenz keine Transzendentalität, d.h. keine Beziehung im Sinne der Anerkennung der Unverfügbarkeit des Gegenübers. Ohne Beziehungsfähigkeit keine Mündigkeit. Ohne Mündigkeit kein Menschsein im vollen Sinne. Und schließlich: Ohne die Menschlichkeit des Menschen keine Möglichkeit einer menschlichen und menschwürdigen Wirklichkeitsgestaltung, welche genügend Lebensräume für die unverfügbare Andersheit der sie bewohnenden Individualitäten schaffen würde.

Steht am Anfang dieser Kausalkette jedoch die Gewalt statt der Beziehung, so besteht eine reale Gefahr, dass der sich der beziehungslosen Praxis der Gewalt verschriebene Mensch sich als ein mündig-verantwortliches Wesen selbst abschaffen und damit auch die Welt der Menschlichkeit berauben würde.


Wir haben es in Hinblick auf unsere Gottesbeziehung mit einer Reihe von Absoluta zu tun, deren Einfluss wir uns nicht entziehen können. Deswegen realisiert sich die Aufkündigung der Transzendentalität faktisch als Vollzug derselben. Auch die Glaubenslosigkeit ist faktisch der Gegenstand des Glaubens, so dass sich der Mensch paradoxer Weise als ungläubig glaubt. Schließlich stellt auch der Beziehungsbruch mit Gott als Ausgangspunkt dieses Geschehens nicht das Ende, sondern den Vollzug der Gottbedürftigkeit des Menschen dar. Denn auch die die Alleinherrschaft des Menschen etablierende Gottlosigkeit bedarf einer transzendent-metaphysischen Legitimierung. Sie muss sich auf eine höhere Instanz berufen, um dem Verdacht der Beliebigkeit zu entkommen und den Status der universalen Verbindlichkeit zu erlangen. Von dieser höheren Instanz und deren sinngebendem und identitätskonstituierendem Charakter bezieht dann der Mensch sein Wirklichkeits- und Selbstbild sowie seine Daseinsberechtigung. Deswegen kommt ihr eine göttliche Funktion zu.


Was allerdings die neuen säkularen Gottheiten wie Evolution, Wirtschaftswachstum, Freiheit u.ä. nicht besitzen, ist der personale Charakter. Auch das ist aber religionsgeschichtlich gesehen nicht so neu und in Hinblick auf das Ideal der Beziehungslosigkeit sogar folgerichtig. Deswegen ähnelt der gott- und beziehungslose Mensch der Moderne kurioser Weise immer mehr dem in sich gekrümmten beziehungslosen Kugelgott der Spätantike, der sich – gefangen in seiner autarken Asozialität – ausschließlich mit sich selbst beschäftigt, weil schon ein flüchtiger Blick über den Tellerrand Spuren von Beziehungsbedürftigkeit verraten und seine Vollkommenheit gefährden würde. Die Unverfügbarkeit dieses Gottes besteht darin, dass er sich durch seine Beziehungslosigkeit jeglicher Dialogizität entzieht. Gemessen an diesem religiösen Vorbild erscheint die postmoderne Tugend der Coolness eigentlich nur als eine triviale Spiegelung der unterkühlten Gleichmütigkeit, in der die vollkommene Glückseligkeit dieses profil- und persönlichkeitslosen metaphysischen Einzelgängers bestehen soll.


Es ist durchaus denkbar, dass wir uns diesem monströsen Monon zugewandt haben, um uns vor dem erschreckenden Übergewicht der Menschlichkeit zu retten, die uns der Gott Jesu Christi aufbürdet. Wir wählen lieber die Illusion der beziehungslosen Eigenmächtigkeit, um der Anstrengung einer mündigen Auseinandersetzung und der damit verbundenen Gefahr des Leidens zu entkommen. Damit sagen wir aber erneut dem Gott ab, der uns dadurch retten will, dass er – selbst Mensch werdend – die Menschlichkeit über die beziehungslos-gewaltsame Göttlichkeit stellt und sie damit zum Kriterium der Transzendentalität erhebt. Seit seiner Offenbarung in Jesus Christus ist es die Menschlichkeit und nicht die beziehungslose Arroganz der Macht, welche den Wert der Transzendenz bestimmt.

Deswegen steht am Beginn dieser neuen Wirklichkeitssicht kein Spektakel kosmischen Ausmaßes, sondern ein Ereignis, dessen Unscheinbarkeit alle bisherigen Vorstellungen von Spektakularität auf den Kopf stellt: Das wahrhaft menschliche Leben eines Menschen, des Wanderpredigers Jesus von Nazareth, welcher als Gotteslästerer hingerichtet wurde. Aber gerade weil sich dieser Mensch im Namen der Nächstenliebe bzw. Menschlichkeit gegen die geläufige Vorstellung von Gott wendet, ist Gott bei ihm und gibt ihm Recht. Gott bekennt sich zu diesem Gotteslästerer, ja mehr noch, er identifiziert sich mit ihm.


Also haben wir es durch und in Jesus Christus mit einem Gott zu tun, der die Gotteslästerung im Namen der Menschlichkeit nicht nur ausdrücklich bejaht, sondern sie zur eigenen Sache macht. Damit bestimmt er zugleich den Wert der Göttlichkeit ganz neu. Mit der so genannten Menschwerdung Gottes wird die Menschlichkeit im Sinne der mündig-verantwortlichen Mitmenschlichkeit zum höchsten Wert: Sie wird an die Göttlichkeit unlösbar gekoppelt. Diese Verbindung zwischen Menschlichkeit und Göttlichkeit, die der Name „Jesus Christus“ zum Ausdruck bringt, verhindert sowohl deren Vermischung als auch deren Trennung. Sie sorgt dafür, dass sich das jeweils Eine an dem jeweils Anderen kritisch messen muss, um als solches nicht zu korrumpieren. Ab jetzt ist das Eine ohne das Andere nicht zu haben. Ab jetzt bedeutet die Entkoppelung von Menschlichkeit und Göttlichkeit den Verlust von beiden.


Zwischen dem Gott Jesu Christi und dem Menschen scheint es ein unlösbares Band zu geben, eine schicksalhafte Bindung, die dafür verantwortlich ist, dass der Mensch mit der Trennung von Gott zugleich sich selbst abhanden kommt. Die Aufkündigung unserer Gottesbeziehung zieht den Verlust der Menschlichkeit nach sich. Das manifestiert sich darin, dass unsere Gottbezogenheit nicht aufgehoben wird, sondern sie wirkt fort und sucht sich eine andere Gründungsinstanz. Dieser andere „Gott“ formt uns dann auf das Bild hin, welchem wir uns mit der Absage an Gott verschrieben haben. Auf das Bild eines Wesens, dessen größter Mangel darin besteht, dass es ihm an dem für die Menschlichkeit des Menschen Wesentlichen nicht (mehr) mangelt: an der Beziehungsbedürftigkeit.


Sind wir nicht gerade Zeuginnen und Zeugen eines solchen Geschehens? Betritt nicht soeben die Bühne der Weltgeschichte ein neuer Mensch, der sowohl das Gottvermissen als auch das Vermissen der Menschlichkeit nicht mehr verspürt? Ein Mensch, dem nur die eingeschränkte, selbstherrliche, sich allverfügend wähnende Sprache beigebracht wurde, die keine Ausdrucksmittel mehr hat für die Thematisierung der transzendentalen Not, für die Erfahrung der eigenen Grenzen, für das schöpferische Innehalten an der Schwelle des Neuen? Was geschieht, wenn der neue Mensch für jede transzendentale Empfindung so unempfänglich wird, dass er nicht nur der Wirklichkeit, sondern auch schon der Möglichkeit von Offenbarung entsagt? Was kann dann noch in ihm zum Schwingen gebracht werden, wenn er vom Überschreitenden nicht mehr berührt werden kann? Wenn die Rede von Gott ihm Antworten gibt auf Fragen, die er aber nicht mehr hat, wenn sie Sehnsüchte stillen möchte, die er nicht mehr verspürt, wenn sie von Befreiung spricht, während er den Unterschied zwischen Freiheit und Unfreiheit nicht mehr ausmachen kann?


Das wäre das böse Ende des Gottfehlens: Wenn Gott schließlich nicht mehr fehlt, weil er in der endgültig gottlos gewordenen Welt nicht einmal als ein vergessener vorkommt. Dann nämlich endet auch die Ära des menschlichen Menschen, der noch das Gottvermissen verspürte und, angetrieben von sehnsüchtiger Gottbedürftigkeit, sich nicht mit dem Vorhandenen zufriedenen gab. Zu Ende wäre es dann mit dem Menschen, welcher, hungernd nach Menschlichkeit, sich immer wieder neu auf den Weg über die Grenzen des Wirklichen machte und damit zugleich die eigene Menschwerdung vorantrieb.


Nicht dass es jetzt, im Zustand der Gottlosigkeit, an diversen „Göttern“ mangeln würde. Nein, sie werden weiter ihren Konkurrenzkampf um den Menschen führen, und er wird ihnen weiter blind folgen, sobald das schmeichelnde Versprechen der Gottgleichheit ertönt. Aber es besteht die Gefahr, dass im bunten Treiben der machtbesessenen Gottheiten die eine Stimme verstummt: die Stimme des Gottes, welcher sich bereit erklärte, zusammen mit uns den Weg zur Menschlichkeit des Menschen und Menschenwürdigkeit der Welt zu beschreiten. Nur dieser menschliche Gott kann uns retten, indem er uns immer wieder auf unsere Menschlichkeit zurückwirft und damit immer wieder neu zu menschlichen, d.h. beziehungsfähigen, mündigen und verantwortlichen Menschen erschafft. Solange uns dieser Gott noch fehlt, solange wir ihn noch vermissen, ist er noch da, und mit ihm die Hoffnung auf die Heilung der Blindheit, auf die Errettung aus der Verlorenheit, auf die Erlösung von dem Selbsterlösungswahn. Noch sehnen wir uns hier und da nach ihm, noch fehlt er. Gott sei Dank!

Dieser Essay wurde veröffentlicht in: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 12/2021

Ein Essay über die Menschlichkeit

Was fehlt, wenn Gott fehlt?

von Katarína Kristinová


Es gehört zur Signatur der Moderne, dass sich der Mensch gottlos wähnt. Indem er jedoch vermeintlich Gott losgeworden ist, hat er seine eigene Menschlichkeit aufs Spiel gesetzt, wie Katarína Kristínova in ihrem Essay zur geistigen und religiösen Lage der Gegenwart zeigen möchte.

Es ist wie bei allen Krisen des Geistes: Augenscheinlich und vordergründig mangelt es uns an nichts. Das Leben geht weiter, der Alltag folgt seinem gewöhnten Gang. Wenn aus der Krise eine Katastrophe wird, bricht sie nicht über uns herein mit dem Getöse einer Naturgewalt, sondern sie schleicht sich heran und dringt leise und unbemerkt in unser Innerstes. Etwas geht uns an die Substanz und dringt damit zugleich in das Herz der Dinge. Und während sich die Welt in ihrer unbesorgt besorgenden Geschäftigkeit weiter dreht, fängt ganz tief in uns etwas an, allmählich zu verkümmern. Ein stilles Absterben findet statt dort, wo die Menschwerdung des Menschen sonst ihren Anfang nahm.

Wie bei allen Katastrophen des Geistes sind wir auch jetzt nicht nur die von ihnen Heimgesuchten, sondern gleichsam deren Vollstrecker. Daher rührt auch unsere doppelte Blindheit: Nicht nur sehen wir nicht, was mit uns geschieht, sondern und vor allem sehen wir auch nicht, dass wir nicht sehen. Und blind für die eigene Blindheit halten wir uns konsequenterweise für klar sehend. Die Mahnungen der wenigen Achtsamen – wir nennen sie Kulturpessimisten – sind für uns höchstens von einem fragwürdigen Unterhaltungswert. Gefangen im Aberglauben der nun erreichten Klarsicht, welchen wir fälschlicherweise für Aufgeklärtheit halten, blicken wir mit besserwisserischer Überlegenheit herab auf die Welt, wie sie war, bevor wir sie und uns durch die Vertreibung Gottes aus unserem Selbstverständnis neu erfanden. Denn mit dem Glauben an die Aufgeklärtheit, die wir mit der Pflicht zur steten Aufklärung verwechseln, haben wir ebenso bereitwillig wie ungeachtet der zur Vorsicht mahnenden Stimmen der besten Denker und Denkerinnen auch die Überzeugung von der nun erreichten Freiheit von Gott angenommen.

Gottlosigkeit – eine metaphysische Überforderung

Anfangs gibt es sie noch – die kurz aufleuchtenden Augenblicke der Besinnung, in denen die Siegestrunkenheit der Ernüchterung weicht, und wir uns der Überforderung bewusst werden, die wir uns mit der Entscheidung für die Gott-losigkeit selbst aufbürden. Ist nämlich Gott vertrieben oder tot, so fällt es dem Menschen zu, seine Stelle einzunehmen. Angesichts der jetzt einzulösenden Selbstverpflichtung zur Gottgleichheit versagt jede noch so souveräne Eigenmächtigkeit. Sie kapituliert zwangsläufig vor der Unbändigkeit und Uneinholbarkeit des Unverfügbaren, welches es kraft der usurpierten Göttlichkeit zu beherrschen gilt. Das Unverfügbare, diejenige Dimension der Wirklichkeit, deren ereignishaftes Eintreten in unsere Lebenswirklichkeit sich jeglichem Zwang seitens des Menschen entzieht und uns gerade deswegen wesenhaft prägt, nenne ich Transzendenz. Sie verleiht unserer Lebenswirklichkeit – einschließlich der des Menschen – eine ereignishaft eigenwillige Qualität und damit auch Bedeutsamkeit und Würde. Durch ihre Wirkung sind und bleiben auch wir uns selbst unverfügbar.

Durch die Erfahrungen der unbezwingbaren Wirkkraft der Transzendenz werden wir uns der metaphysischen Überforderung bewusst, welche unsere selbstgewählte Gottgleichheit kränkt. Beide, die Kränkung und die Überforderung, werden begleitet und verstärkt vom Gefühl einer metaphysischen Einsamkeit. Denn die Existenz des gottlos-gottgleichen Menschen findet statt im Modus einer kosmischen Obdachlosigkeit inmitten eines eiskalt gleichgültigen Universums. Sie wurde uns einst als die heroische Existenz eines zur Stärke und Autonomie gereiften Individuums vorausgesagt. Der starke gott-lose Mensch würde – der Tatsache seiner kosmischen Einsamkeit entschlossen ins Auge blickend – dieselbe als seine Befreiungschance ergreifen und sich selbst zum Gesetzes-, Werte- und Sinnstifter werden. In der erlangten Autonomie würde er sich endgültig als eines Gottes nicht (mehr) bedürftig erweisen und bewähren. Doch weit entfernt davon, eine solche creatio ex nihilo seiner selbst zu vollziehen, schielt der seine Souveränität demonstrierende Mensch stets nach Begründungsinstanzen, an denen er seine Menschwerdung ausrichten kann. Und es gibt nicht wenige Götter, die nur darauf warten, um nach ihm greifen und ihn nach ihrem Bild formen zu können.

Eine tragische Fehleinschätzung des Menschen

Die Erfüllung der Verheißung einer göttlichen Autonomie scheint endgültig auszubleiben, und es drängt sich immer stärker die Frage auf, ob es sich hier doch nicht um eine tragische Fehleinschätzung bzw. eine metaphysische Überschätzung handelt, die dringend revidiert werden müsste. Denn die Quintessenz, welche aus all den verstörenden Erfahrungen unserer Unzulänglichkeit zu ziehen wäre, lautet: Mit der Entscheidung für die Gottlosigkeit werden wir nicht automatisch auch unsere Gottbedürftigkeit los. Das wird in den Augenblicken der schmerzhaften metaphysischen Luzidität zumindest spürbar.

Um dem abgründigen Schmerz und der ängstigenden Unheimlichkeit solcher Augenblicke zu entkommen, lernen wir schnell, unsere überraschend fragile Selbstsicherheit vor derartigen Störungen zu schützen. Wir fangen an, solche Momente zu meiden, ja, besser schon ihrer Möglichkeit aus dem Wege zu gehen. Da aber jeder Zustand der Bewusstheit die Möglichkeit der existentiellen Luzidität in sich birgt, wird die Wachsamkeit des Geistes intuitiv als Gefahrenquelle erfasst und der Betäubungskur durch Geschäftigkeit, Lärm und Konsum unterzogen.

Durch diese verheerende Vermeidungsstrategie brechen wir die Verbindung zu denjenigen Bereichen unseres Selbst ab, die sich als Quellen der existentiellen Geistesgegenwärtigkeit erweisen, und beschneiden damit uns selbst um die ihr innewohnenden (Existenz)­möglichkeiten.

Der Verzicht auf kritische Selbstreflexivität und seine Folgen

Es ist zunächst die Selbstreflexivität des Menschen, deren Durchlässigkeit für Impulse und Anstöße von außen für uns zur steten Bedrohung werden könnte auf unserem Weg zu der verheißenen autarken Glückseligkeit. Deswegen fängt das Denken an, sich möglichen externen Verunsicherungen zu verschließen. Wenn sich aber das Denken in absolutistischer Manier der kritischen Selbstüberprüfung verweigert, hört es nicht eigentlich auf, zu denken? Verkommt es nicht zum unfruchtbaren Memorieren und schließlich zur Irrationalität?

Der Verzicht auf die kritische Selbstreflexivität hat nachhaltige Folgen. Die Reflexivität ist nämlich nicht nur für Verunsicherungen und Irritationen, sondern gleichermaßen für Inspiration und Bereicherung durchlässig, ohne die die Menschwerdung schlicht nicht denkbar ist. Mit der Absage an diese dialogische Dimension des Denkens wird der Prozess der Menschwerdung als der (Selbst)transzendierung unterbrochen und schließlich zum Stillstand gebracht. Es kommt zum Stillstand des geistigen Wachstums, der auch unsere Sprach-, Beziehungs- und Wahrnehmungsfähigkeit infiziert.

Die Sprache, welche ebenfalls von einer schöpferischen Selbstüberschreitung lebt, verliert in Folge der reflexiven Transzendenzverweigerung ihre Aussagekraft und degeneriert zum Konglomerat aus nichtssagenden Klischees. Damit verzichtet sie auf den heuristischen Vorgriff auf die Möglichkeit, beschwört stattdessen die vermeintliche Letztgültigkeit des Vorhandenen und macht blind für die zur Verwirklichung drängenden Möglichkeiten. Auf diese Weise entfaltet sie ihre reduktive, nivellierende Wirkung auf die Gestalt der Wirklichkeit einschließlich des Menschen und seiner Lebensqualität. Ein unheilvoller Kreislauf kommt zutage: Wie in einer – durch die beziehungslose Sprache – verarmten Wirklichkeit nur eine armselige Existenz möglich ist, generiert die sprachliche Verarmung ihrerseits eine ihr entsprechende unterkomplexe und in jeglicher Hinsicht trostlose Welt. In Folge der transzendentalen – d.h. auf die Unverfügbarkeit gerichteten – Beziehungslosigkeit unserer sprachlich-kognitiven Ressourcen schrumpft auch unsere Wahrnehmungskompetenz, so dass wir schließlich nur noch das wahrzunehmen im Stande sind, worauf uns die verarmte Sprache noch zu sensibilisieren vermag.

Die Alternative von Beziehung oder Gewalt

Der Verzicht auf die Selbstreflexivität, die Verarmung der Sprache und der Wahrnehmung sowie eine entsprechende Nivellierung der Wirklichkeit sind auf unser Verhalten gegenüber der Unverfügbarkeit, d.h. auf die Qualität unseres Transzendenzverhältnisses, zurückzuführen. Da wir uns nämlich dem Unverfügbaren nicht entziehen können, bleibt die Bindung zwischen der Transzendenz und uns – ob wir wollen oder nicht – auch dann bestehen, wenn wir uns ihr entziehen oder ihr entledigt zu haben glauben. Im Grunde stellt auch die Verweigerung oder die Leugnung der Transzendenz bzw. unserer Bindung an sie einen Vollzug derselben dar. Ich nenne diese Bindung die Transzendentalität.

Entscheidend jedoch ist nicht die pure Vorhandenheit der menschlichen Transzendentalität, sondern ihre Qualität. Wir stehen in Hinblick auf die Transzendenz stets vor der Wahl zwischen zwei grundsätzlichen Modi unseres Sich-Verhaltens zu ihr: Entweder treten wir mit ihr in einen kritischen Dialog (wobei ich das Wort „kritisch“ mit „vorsichtig“ gleichsetze), oder wir verharren in einer abwehrenden Verschlossenheit gegenüber ihrer fremdartigen Wirkung, da wir unser Wirklichkeits- und Selbstbild vor ihr schützen zu müssen glauben.

Die stete dialogische Auseinandersetzung des Menschen mit dem, was sein Denken überschreitet, nenne ich Beziehung im eigentlichen Sinne. Sie ist die einzig mögliche Weise der Bindung an die Unverfügbarkeit, weil nur sie ihr und ihrem ansprechend-dialogischen Charakter wirklich entspricht. Die Verweigerung der Beziehung nenne ich Gewalt, weil sie einen Versuch darstellt, mittels Leugnung, Diskreditierung oder Vereinnahmung über die Transzendenz – als auch die Transzendentalität – zu verfügen.

Idolatrie- und Ideologieanfälligkeit

Mit der Alternative von Beziehung und Gewalt stehen wir vor der schicksalhaften Grundsatzentscheidung zwischen Verfügbarkeit und Unverfügbarkeit, mit welcher wir uns auf eine bestimmte Beschaffenheit der Wirklichkeit sowie die Gestalt des Menschseins festlegen. Wir haben es also im Falle der Transzendenz mit einem Absoluten zu tun. Ein Absolutes kann weder eliminiert noch entmachtet werden und bleibt selbst als Abwesendes im Modus der bestehenden transzendentalen Bindung (Transzendentalität) ungebrochen wirksam. Deswegen handelt es sich bei der Leugnung der Transzendenz um einen unreflektierten und blinden Vollzug der Transzendentalität, der die Entfesselung ihrer dunklen, zerstörerischen Seite zutage fördert. Denn während die Bewusstmachung und das Eingeständnis der Transzendentalität einen bewussten, kritischen und verantwortlichen Umgang mit derselben (Beziehung) möglich machen, kann sie uns jetzt, da wir uns ihrer entledigt zu haben glauben (Gewalt), entgleiten und unbemerkt und unkontrolliert im Schatten eben dieses Glaubens fortwirken, bis sie sich unserer schließlich gänzlich bemächtigt.

So führt z.B. der Glaube an die eigene Glaubenslosigkeit zum enormen Anwachsen idolatrischer Strukturen und zur regelrechten Entfesselung ideologischer Empfänglichkeit. Wird er weder kontrolliert noch kultiviert, gerät er aus den Fugen und macht den Menschen anfällig für jede ideologische Manipulation, die seiner vermeintlichen Autonomie schmeichelt und sich passend zu ihr als Glaubens- und Gottlosigkeit ausgibt. Daher schweben wir mehr denn je in der Gefahr, unserem unbändig unkontrollierten transzendentalen Drang blind folgend, im Glauben an die eigene Gott-losigkeit neuen Göttern zu dienen, im Glauben an die Faktizität den als Fakten etikettierten Ideologien zu vertrauen und sich in eine als Freiheit angepriesene Manipulation und Unmündigkeit zu begeben.

Die Krise der Menschlichkeit

Das Unternehmen der Absage an die Transzendenz und Transzendentalität des Menschen scheitert also an eben denselben. Und es scheitert so, dass es paradoxerweise als pervertierter, weil unreflektierter Vollzug derselben gelingt. Wenn wir also der Transzendenz bzw. Unverfügbarkeit mit Gewalt statt mit Beziehung begegnen, verwandelt sich ihre schöpferische Kraft konsequenterweise in eine zerstörerische. Wenn wir auf diese Weise der Transzendenz Gewalt antun, tun wir gleichsam uns selbst Gewalt an.

Solange also das Menschsein des Menschen unter allgemeiner Zustimmung an dem Ideal der verantwortlichen Existenz eines mündigen Individuums gemessen wird, kommen wir nicht herum um die Beziehungsfähigkeit als dessen fundamentale Bedingung. Das bedeutet, ohne die Beziehungsfähigkeit als den Modus unseres Selbst- und Weltverhältnisses wären weder die Menschlichkeit des Menschen noch die der Welt möglich. Die Beziehungsfähigkeit als die Bereitschaft, die unverfügbare Andersheit des Anderen anzuerkennen und sich mit ihr kritisch-dialogisch auseinanderzusetzen, ist aber ohne die Kategorie der Unverfügbarkeit bzw. die Transzendenz nicht zu denken. Das bedeutet v.a., dass der hier ermittelte Zusammenhang zwischen der Beziehungsfähigkeit, der Mündigkeit und der Menschlichkeit notwendigerweise auf der Kategorie der Transzendenz bzw. der Unverfügbarkeit gründet. So kann schematisch festgehalten werden: Ohne Transzendenz keine Transzendentalität, d.h. keine Beziehung im Sinne der Anerkennung der Unverfügbarkeit des Gegenübers. Ohne Beziehungsfähigkeit keine Mündigkeit. Ohne Mündigkeit kein Menschsein im vollen Sinne. Und schließlich ohne die Menschlichkeit des Menschen keine Möglichkeit einer menschlichen und menschwürdigen Wirklichkeitsgestaltung, welche genügend Lebensräume für die unverfügbare Andersheit der sie bewohnenden Individualitäten schaffen würde.

Steht am Anfang dieser Kausalkette jedoch die Gewalt statt der Beziehung, so besteht eine reale Gefahr, dass sich der sich der beziehungslosen Praxis der Gewalt verschriebene Mensch als ein mündig-verantwortliches Wesen selbst abschaffen und damit auch die Welt der Menschlichkeit berauben würde.

Mangelhafte Ersatzgottheiten

Wie sich die Aufkündigung der Transzendentalität faktisch als Vollzug derselben, und die Glaubenslosigkeit als der Gegenstand des Glaubens realisiert, so dass sich der Mensch paradoxerweise als ungläubig glaubt, so stellt auch der ihnen vorausgehende Beziehungsbruch mit Gott nicht das Ende, sondern den Vollzug der Gottbedürftigkeit des Menschen dar. Denn auch die die Alleinherrschaft des Menschen etablierende Gottlosigkeit bedarf einer transzendent-metaphysischen Legitimierung. Sie muss sich also auf eine höhere Instanz berufen, um dem Verdacht der Beliebigkeit zu entkommen und den Status der universalen Verbindlichkeit zu erlangen. Von dieser höheren Instanz und deren sinngebendem und identitätskonstituierendem Charakter bezieht dann der Mensch sein Wirklichkeits- und Selbstbild sowie seine Daseinsberechtigung. Deswegen kommt ihr eine Gottesfunktion zu.

Was allerdings die neuen säkularen Gottheiten wie Evolution, Wirtschaftswachstum, Freiheit, Menschenwürde u.ä. nicht besitzen, ist der personale Charakter. Auch das ist aber religionsgeschichtlich gesehen nicht so neu und im Hinblick auf das Ideal der Beziehungslosigkeit sogar folgerichtig. Deswegen ähnelt der gott- und beziehungslose Mensch der Moderne kurioserweise immer mehr dem in sich gekrümmten beziehungslosen Kugelgott der Spätantike, der sich – gefangen in seiner autarken Asozialität – ausschließlich mit sich selbst beschäftigt, weil schon ein flüchtiger Blick über den Tellerrand Spuren von Beziehungsbedürftigkeit verraten und seine Vollkommenheit gefährden würde. Die Unverfügbarkeit dieses Gottes besteht darin, dass er sich durch seine Beziehungslosigkeit jeglicher Dialogizität entzieht. Gemessen an diesem religiösen Vorbild erscheint die postmoderne Tugend der Coolness eigentlich nur als eine triviale Spiegelung der unterkühlten Gleichmütigkeit, in der die vollkommene Glückseligkeit dieses profil- und persönlichkeitslosen metaphysischen Einzelgängers bestehen soll.

Gott wird Mensch – ein spektakulärer Schritt

Es ist durchaus denkbar, dass wir uns diesem monströsen Monon zugewandt haben, um uns vor dem erschreckenden Übergewicht der Menschlichkeit zu retten, die uns der Gott Jesu Christi aufbürdet. Wir wählen lieber die Illusion der beziehungslosen Eigenmächtigkeit, um der Anstrengung einer mündigen Auseinandersetzung und der damit verbundenen Gefahr des Leidens zu entkommen. Damit sagten wir aber erneut dem Gott ab, der uns dadurch retten will, dass er – selbst Mensch werdend – die Menschlichkeit über die beziehungslos-gewaltsame Göttlichkeit stellt und sie damit zum Kriterium der Transzendentalität erhebt. Seit seiner Offenbarung im Jesus Christus ist es die Menschlichkeit und nicht die beziehungslose Arroganz der Macht, welche den Wert der Transzendenz bestimmt.

Deswegen steht am Beginn dieser neuen Wirklichkeitssicht kein Spektakel kosmischer Ausmaße, sondern ein Ereignis, dessen Unscheinbarkeit alle bisherigen Vorstellungen von Spektakularität auf den Kopf stellt: das wahrhaft menschliche Leben eines Menschen. Im Bekenntnis Gottes zu diesem als Gotteslästerer hingerichteten Wanderprediger Jesus von Nazareth erreicht die Gottesförderung der mündigen Menschlichkeit ihren Höhepunkt. Denn: Weil sich dieser Mensch im Namen der Nächstenliebe bzw. Menschlichkeit gegen die geläufige Vorstellung von Gott wendet, ist Gott bei ihm und gibt ihm Recht. – So könnte die Quintessenz des christlichen Glaubens lauten. Und hinzu kommt die zu ihr gehörige Überzeugung: Nur dieser menschliche Gott kann uns retten, indem er uns immer wieder auf unsere Menschlichkeit zurückwirft und damit immer wieder neu zu menschlichen, d.h. beziehungsfähigen, mündigen und verantwortlichen Menschen macht.

Das theologische Fazit des bisher Angedachten könnte lauten: Zwischen dem Gott Jesu Christi und dem Menschen scheint es ein unlösbares Band zu geben, eine schicksalhafte Bindung, die dafür verantwortlich ist, dass der Mensch mit einer Trennung von Gott zugleich sich selbst abhanden kommt. Denn unsere Gottbezogenheit – selbst wenn Gott bloß eine formal-begriffliche Kategorie wäre – wirkt fort und formt uns auf das Bild hin, welchem wir uns mit der Absage an Gott verschrieben haben. Auf das Bild eines Wesens, dessen größter Mangel darin besteht, dass es ihm an dem für die Menschlichkeit des Menschen Wesentlichen (der Beziehungsbedürftigkeit) nicht (mehr) mangelt.

Wenn Gott nicht mehr fehlt …

Sind wir nicht gerade Zeuginnen und Zeugen eines solchen Geschehens? Betritt nicht soeben die Bühne der Weltgeschichte ein neuer Mensch, der sowohl das Gottvermissen als auch das Vermissen der Menschlichkeit nicht mehr verspürt? Ein Mensch, dem nur die eingeschränkte, selbstherrliche, sich allverfügend wähnende Sprache beigebracht wurde, die keine Ausdrucksmittel mehr hat für die Thematisierung der transzendentalen (Sprach)not, für die Erfahrung der eigenen Grenzen, für das schöpferische Innehalten an der Schwelle des Neuen? Was geschieht, wenn der neue Mensch für jede transzendentale Empfindung so unempfänglich wird, dass er nicht nur der Wirklichkeit, sondern auch schon der Möglichkeit von Offenbarung entsagt? Was kann dann noch in ihm zum Schwingen gebracht werden, wenn er vom Überschreitenden nicht mehr berührt werden kann? Wenn die Rede von Gott ihm Antworten gibt auf Fragen, die er aber nicht mehr hat, wenn sie Sehnsüchte stillen möchte, die er nicht mehr verspürt, wenn sie von Befreiung spricht, während er den Unterschied zwischen Freiheit und Unfreiheit nicht mehr ausmachen kann?

Das wäre das böse Ende des Gottesfehlens: Wenn Gott schließlich nicht mehr fehlt, weil er in der endgültig gottlos gewordenen Welt nicht mal als ein vergessener vorkommt. Dann nämlich endet auch die Ära des menschlichen Menschen, der noch das Gottvermissen verspürend und angetrieben von sehnsüchtiger Gottbedürftigkeit sich nicht mit dem Vorhandenen zufriedenen gibt und sich hungernd nach Menschlichkeit immer wieder neu auf den Weg über die Grenzen des Wirklichen macht und damit zugleich die eigene Menschwerdung vorantreibt.

Nicht dass es jetzt, im Zustand der Gottlosigkeit, an Göttern mangeln würde. Nein, sie werden weiter ihren Konkurrenzkampf um den Menschen betreiben, und er wird ihnen weiter blind folgen, sobald das schmeichelnde Versprechen der Gottgleichheit ertönt. Aber es besteht die Gefahr, dass im bunten Treiben der machtbesessenen Gottheiten die eine Stimme verstummt: Die Stimme des Gottes, welcher sich bereit erklärte, zusammen mit uns den Weg zu der Menschlichkeit des Menschen und Menschenwürdigkeit der Welt zu beschreiten. Solange uns dieser Gott noch fehlt, solange wir ihn noch vermissen, ist er noch da und mit ihm die Hoffnung auf die Heilung der Blindheit, auf die Errettung aus der Verlorenheit, auf die Erlösung von dem Selbsterlösungswahn. Noch sehnen wir uns hier und da nach ihm, noch fehlt er. Gott sei Dank!

Über die Autorin / den Autor:

Dr. theol. Katarína Kristinová, Jahrgang 1970, Studium der Evang. Theologie an der Komenius Universität in Bratislava (Slowakische Republik) und an der Humboldt Universität zu Berlin, Mitwirkende am Fraternal Sororal Worker Programm der EkiBB, 2005 Diplom, 2004-2008 Inspektorin der Stiftung Johanneum in Berlin, 2006-2008 Koordinatorin der Rel.phil. Schulprojektwochen, eines Bildungsprojekts der EKBO, seit 2008 Religionslehrerin an diversen Gymnasien und Grundschulen in der EKBO, 2017 syst.-theol. Promotion an der Universität Münster: "Die verbotene Wirklichkeit. Untersuchungen zur wirklichkeitskonstitutiven Relevanz des christlichen Offenbarungsbegriffs" (Heidelberg 2018).

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 12/2021

Fragen an Katarina Kristinova: Theologie für die Gegenwart

Was beschäftigt Lehrerinnen und Lehrer der Theologie? In dieser Reihe antworten Theologinnen und Theologen aus verschiedenen Fachrichtungen und Hochschulen, was sie persönlich und im Beruf bewegt.

Von CHRIST IN DER GEGENWART

© Foto: privaten

 Artikel für Christ in der Gegenwart / Theologie in der Gegenwart/ August 2021

Was ist Ihr Lieblingsort?

Jeder, an dem ich ein Mensch sein darf.

Woran forschen Sie gerade?

Ich bin auf der Suche nach einem zeitgemäßen und zukunftsfähigen Gottesbild. Es soll einerseits

von den nicht mehr tragbaren metaphysischen Zügen bereinigt, andererseits jedoch auch nicht der

Naivität eines vermeintlichen Verzichts auf jegliche Metaphysik entnommen werden. Der

Gottesbegriff der Zukunft soll also im guten Sinn ein postmetaphysischer sein. Seine Ermittlung

setzt zugleich die Reformulierung der – ihn erst ermöglichenden – Auffassung von der Wirklichkeit,

der Transzendenz und dem Menschenbild voraus.

Meine aufregendste Bibelstelle ...

… ist seit meiner Jugend Joh 8, 32: „Und ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird

euch befreien.“ Glaube als Befreiung von den Illusionen, auch der Illusion der Glaubenslosigkeit.

Also als konsequente Aufklärung. Deswegen will ich keine Atheistin sein.

Mit welcher Person aus Gegenwart und/oder Geschichte würden Sie gerne diskutieren? -

Worüber?

Aktuell mit dem tschechischen Theologen Tomáš Halík. Sein theologisches Denken verdankt sich

zum großen Teil der Stille einer Abtei. Daher kommt möglicherweise seine Frische und

inspirierende Kraft. Ich würde mit ihm gerne ein Gespräch über Gott und die Welt führen, das

einem spontanen und redlichen Drauf-Losdenken gleicht, bar jeglicher ideologischer oder

funktionalistischer Zwänge.

Mein „Herzens“-Gebet …

… habe ich wohl nicht. Aber eines geht mir nicht aus dem Sinn. Es wird Friedrich dem Großen

zugeschrieben: „Lieber Gott, falls es dich gibt, rette meine Seele, falls ich eine habe.“

Was ist für Sie das drängendste theologische Problem der Gegenwart?

Der drohende Verlust der Transzendenz-Empfänglichkeit und damit der Sieg des Materialismus.

Dieser würde nämlich eine totale Entmenschlichung des Menschen bedeuten.

Welchen Atheisten schätzen Sie?

Alle, die konsequent atheistisch sind, sich also nicht unreflektiert irgendein metaphysisches

Hintertürchen offen lassen. Solche, die sich auch der Sinnlosigkeit ohne Wenn und Aber stellen.

Solche, die ihren Gegner gründlich studiert haben. Nietzsche, Camus, Machovec ... Diese echten

Atheisten kenne ich leider nur aus den Büchern. Und ich vermisse einen Atheismus, der sich

selbstkritisch reflektiert und über sich selbst lachen kann.

Wann waren Sie zuletzt im Kino? In welchem Film?

So vor drei Jahren in „Legend of Tarzan“. Es war ein „soziales Geschenk“ an zwei jezidische Jungs

aus Syrien. Rein privat hätte ich es mir nicht angetan.

Und im Theater?

Das war verständlicher Weise noch „vor Corona“. Am 26.2.2021 zum Politischen Aschermittwoch

im Theater des Westens in Berlin. Und am 13.1.2021 in der Berliner Philharmonie zu den „African

Angels“, einem atemberaubend schönen Abend mit dem Chor der Cape Town Opera.

Wer sind Ihre Lieblingsdichter, Ihre Lieblingsschriftsteller?

Für mein Leben geprägt hat mich der slowakische Dichter Milan Rúfus. Seine Verse über den

Verlust der Kindheit, den Schwund der Schönheit, der einher geht mit Gottesverlust. Nie vergessen

werde ich seine poetische Vision des jüngsten Gerichts, bei dem er, der Dichter, vor Gott tritt und

feierlich bekennt: „Ich habe geliebt. Das muss reichen.“

Welche Musik hören Sie gern?

Klassische Musik ist für mich so etwas wie Muttersprache. Sie strengt mich nie an. Aber ich mag

und schätze auch die archaische Tiefe der authentischen Folklore aller Weltkulturen oder die Rasanz

der orientalischen Musik. Ich schmelze dahin beim bel canto, bei den beseelten Stimmen der

Gospel-SängerInnen, mag den Sound von Queen oder Abba, bin aber auch für ein musikalisches

Grenzgängertum a la Freddie Mercury und Montserrat Caballé zu begeistern. Und es mag etwas

befremdlich klingen: Ich habe sogar einen Sinn für Blasmusik.

Welches nicht-theologische Buch lesen Sie momentan?

Bernhard Waldenfels` „Phänomenologie der Aufmerksamkeit“ und den Krimi der USamerikanischen Literaturwissenschaftlerin Carolyn Heilbrun: „Die letzte Analyse“.

Und welches theologische Werk?

„Theater für Engel“ von dem schon erwähnten tschechischen Theologen Tomáš Halík. Ich schätze

überaus sein kreatives Denken, welches mir neue Horizonte eröffnet und mich inspiriert. Es gibt mir

zu denken und macht Spaß.

Wer ist Ihr theologisches Vorbild?

Hm, eigentlich habe ich keines. Es sind vielmehr die Gedankenansätze, die mich inspirieren und

prägen. Und von denen finde ich nahezu bei jedem bzw. jeder etwas.

Was – wo – war Ihr schönstes Gottesdiensterlebnis?

Da haben Sie den wunden Punkt getroffen. Ein Gottesdienst, der von einer unspektakulären

Wahrhaftigkeit ist, zentriert um eine Predigt, die den Predigttext ernst nimmt und die Frucht einer

existentiellen Auseinandersetzung mit dem selben darstellt, ist leider eine seltene Ausnahme. Die

Gottesdienste meines Mannes gehören zu diesen Ausnahmeerscheinungen.

Wovor haben Sie Angst?

Vor Ohnmacht und Perspektivlosigkeit. Und vor der Macht der Dummheit.

Worauf freuen Sie sich?

Meine Vorfreude beschränkt sich auf Kurz- bis Mittelfristiges: den Feierabend, den Morgenkaffee

im Garten, das Ausschlafen können, den Tag ohne Termine, Urlaub ... Das existentiell Langfristige

fällt bei mir unter den Horizont von Hoffnung. Ich hoffe, dass Gott in jeder Hinsicht das letzte Wort

behält. 

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