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Meine Predigten

Die Weisheit Gottes

▐PREDIGT ZU 1 Kor 2, 1 - 5 , Borgsdorf 16. Januar 2022


Gnade sei mit euch

und Friede von Gott, unserem Vater,

und dem Herrn Jesus Christus. AMEN

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Liebe Gemeinde, heute geht es um die Weisheit. ▐ Ein Wort, das man heute kaum mehr benutzt. ▐ Klug, klever, intelligent, schlau, smart – das sind die Prädikate der heutigen Zeit. ▐ Aber weise? ▐ Da denken wir wohl eher an die Weisen aus dem Morgenland, ▐ an die alten Rab­biner, ▐ an Buddha, ▐ oder an Dostojewskijs „Starec“. ▐ Weisheit ist ein Wort, dass wir heute nicht mehr so schnell in den Mund nehmen, ▐ ein Wort, dass eher den fernen Zeiten vorbehalten bleibt, oder fernen Völkern, ▐ deren Weisen, die als Prophetinnen oder Schamanen gel­ten, in ihrer Einsiedelei sitzend Besuche von Menschen empfangen, ▐ die nach den Antworten auf die quälenden Fragen ihres Lebens such­ten.

Wir befragen eher die TherapeutInnen, ▐ blättern in der die Regale fül­lenden Ratgeber-Literatur, ▐ hören uns Fernsehinterwiews mit den so­genannten ExpertInnen an, ▐ lassen uns „couchen“, ▐ oder konsultie­ren das Google – ▐ übrigens auch ich habe schnell bei Google nachge­schaut, welchen Artikel das Wort Google hat, ▐ und damit für einige Verwirrung beim Google gesorgt, ▐ besteht doch dieses Portal aus lauter Artikeln zu unzähligen Themen.

Und unser Wissen stellen wir unter Beweis in den unzähligen Quiz­shows, ▐ indem wir Fragen zu beantworten versuchen wie z. B.: ▐ Wie viele Oscars gewann der Film „Titanic“? ▐ Wie viele Atemzüge nimmt der menschliche Körper täglich? ▐ Aus wie vielen Kräutern ist Jägermeister gemacht? ▐ Bei welchem Wert liegt der Weltrekord im Dauerjodeln?

Die Weisheit im ursprünglichen Sinne ist wohl doch etwas anderes als das. ▐ Aber: ▐ Manchen Sachen kommt man besser auf die Spur, wenn man sich mit deren Gegenteil beschäftigt. ▐ Als das Gegenteil der Weisheit wird in der Bibel die Torheit genannt, die auch mit Dummheit übersetzt wird.

So blätterte ich nach längerer Zeit u.a. wieder in den vielen Büchern, die sich mit dem Phänomen der Dummheit, deren Struktur und Ge­schichte beschäftigen. ▐ Auch rief ich mir in Erinnerung, dass u. a. der große Theologe des 20. Jhs, Karl Barth die Dummheit als einen zentralen Aspekt der Sünde bezeichnet. ▐ Dietrich Bonhoeffer hebt hervor, dass Dummheit keinen intellektuellen, sondern einen mensch­lichen Defekt darstellt, ▐ und konstatiert treffend, dass wir gegenüber der Dummheit machtlos sind. ▐ „Dummheit ist ein gefährlicherer Feind des Guten als Bosheit.“ - schreibt er. ▐ „Gegen das Böse lässt sich protestieren, es lässt sich bloßstellen, es lässt sich notfalls mit Gewalt verhindern […] . ▐ Gegen die Dummheit sind wir wehrlos. ▐ Weder mit Protesten noch durch Gewalt lässt sich hier etwas ausrich­ten; ▐ Gründe verfangen nicht; ▐ Tatsachen, die dem eigenen Vorur­teil widersprechen, brauchen einfach nicht geglaubt zu werden […]. ▐ Daher ist dem Dummen gegenüber mehr Vorsicht geboten als ge­genüber dem Bösen.“(Widerstand und Ergebung, DBW Bd. VIII, S. 26 ff.)

Dummheit hat offenbar weder etwas mit dem Bildungsstand noch et­was mit dem Mangel an logischem Denken zu tun. ▐ Ihr Träger kann sich sogar mit einem Professorentitel schmücken, und eine perverse innere Logik entwickeln, gegen die man selbst mit den schlüssigsten Argumenten nicht ankommt. ▐ An diese innere Logik der Dummheit erin­nert mich folgender Witz: ▐ Wussten Sie, dass sich die Elefanten gerne auf den Bäumen verstecken? - ▐ So ein Quatsch, sagen Sie. ▐ Noch nie hat jemand ei­nen Elefanten auf einem Baum gesehen. - ▐ Na sehen Sie, wie gut sie sich verstecken können – lautet dann die siegreiche Antwort.

Die für mich treffendste Definition der Dummheit liefert der große Philosoph des Mittelalters Nikolas von Kues. ▐ Die Dummheit ist sei­ner Auffassung nach nichts anderes als Unbelehrbarkeit – ▐ also die Weigerung, ▐ sich auf eine neue Perspektive einzulassen und sich durch sie korrigieren in der eigenen Denkweise korrigieren zu lassen ▐ und in diesem Sinne also dazu zu lernen.

Und wenn alle Philosophie und alle Weisheit mit Staunen beginnt,▐ dann ist auch der Ausdruck des katholischen Theologen, ▐ Johann Baptist Metz, absolut zutreffend:▐ Er spricht von der sogenannten Verblüffungsfestigkeit.▐ Unbelehrbarkeit und Verblüffungsfestigkeit sind damit nichts anderes als Bildungsferne bzw. Bildungsverweige­rung.

Das Perfide an der Dummheit ist zudem, ▐ dass sie sich gerne für ihr Gegenteil ausgibt, ▐ dass sie sich als Weisheit und Klugheit präsentiert. ▐ Sie imponiert gerne mit Kompetenzgehabe, Das Tragische ist, dass ihr dieses Täuschungsmanöver meistens gelingt. ▐schüchtert ein mit verschachtelten Sätzen voller Fachtermini, demonstriert absolute Selbstsicherheit und Überlegenheit,▐ihre Waffen sind Behauptungen, ▐ und wenn sie mal Fragen stellt, dann steht die Antwort schon längst fest. ▐ Auf den Punkt gebracht: die Dummheit lebt von der Aura der Weisheit, also vom puren Schein. ▐ Das Tragische ist, dass ihr dieses Täuschungsmanöver meistens gelingt. ▐Dieses Weisheitsgehabe der Dummheit wirkt leider bei viel zu vielen. ▐ Nur die Kinder, die sogenannten Narren und die wenigen Weisen unter uns bleiben hier unbeeindruckt.▐ Entweder sie langweilen sich und zeigen sich so immun gegen die teuflische Faszination, ▐ oder sie machen eine Feststellung, die das ganze Kartenhaus zum Einstürzen bringen kann. ▐ Dann erweist sich die vermeintliche Weisheit als Banalität, die vermeintlich heilige Wahrheit als stupide Ideologie, und die Kaiser dieser Welt zeigen sich nackt.

So, nun haben wir auf der Suche nach der Weisheit ausgiebig mit de­ren Gegenteil beschäftigt. ▐ Jetzt werden hoffentlich die Worte unseres Predigttextes umso mehr einleuchten, wenn Paulus sagt:

1 Und als ich zu euch kam, Brüder, kam ich nicht mit überragen­der Rede oder Weisheit, als ich euch das Geheimnis Gottes ver­kündete.

2 Denn ich nahm mir vor, unter euch nichts zu wissen außer Jesus Christus und diesen als Gekreuzigten.

3 Und ich trat in Schwachheit und in Furcht und mit viel Zittern bei euch auf,

4 und mein Wort und meine Verkündigung bestand nicht in über­redenden Weisheitsworten, sondern im Erweis von Geist und Kraft,

5 damit euer Glaube nicht auf Weisheit von Menschen beruhe, sondern auf der Kraft Gottes.

Es sind Verse 1 – 5 aus dem 1. Brief des Paulus an die Gemeinde in Korinth, aus dem 2. Kapitel, in der Übersetzung von Erich Fascher. (Der erste Brief des Paulus an die Korinther, 1. Teil, ThHNT 7/1, S. 113)

Paulus, der gebildete hellenistische Jude, ▐ dem sowohl die Grundlagen der Philosophie als auch der Rhetorik, also der Kunst der öffentlichen Rede ▐ sehr wohl bekannt waren, ▐ hat das Phänomen der vermeintlichen Weisheit durchschaut ▐ und sich bewusst entschieden, ganz anders aufzutreten, als es auch zu seiner Zeit üblich war: ▐ nicht mit überragender Rede, ▐ nicht mit überredenden Weisheitsworten, sondern in Schwachheit und mit Furcht und Zittern.

Mit anderen Worten: ▐ Er wollte im Gegensatz zu den Weisheitslehrern seiner Zeit keinen Eindruck schinden, ▐ sondern darauf vertrauen, ▐ dass die Sache, für die er hier eintritt, für sich selbst spricht. ▐ Und mehr noch: Ihm war auch sehr wohl bewusst, dass die Botschaft nicht nur darin besteht, WAS wir sagen, sondern auch WIE wir das sagen.

Und darin zeigt sich die wahre Weisheit. ▐ Sie ist bescheiden, ▐ sie muss nicht auf eine effektvolle Verpackung setzen, denn sie hat genug Substanz, die für sich spricht. ▐ Auch weiß sie um die eigenen Schwachpunkte, denn nur durch ihre Korrektur kann sie der Wahrheit näher kommen. ▐ Bescheidenheit, Fragen, leise Töne und Dialog – das sind ihre Mittel.

So steht die inhaltliche Klarheit gegen die rhetorische Effekthascherei, ▐ die Redlichkeit gegen die ideologische Selbstherrlichkeit, ▐ die respektvolle Gesprächsbereitschaft gegen die behauptende Gewalt, ▐ das authentische Auftreten gegen den Schein der Perfektion,▐ das Wunder der Wahrhaftigkeit gegen das plumpe Spektakel.

Paulus stellt hier so etwas wie eine Faustregel, nach der die Weisheit von deren Gegenteil unterschieden werden kann. ▐ Und diese Faustregel funktioniert perfekt auch noch heute. ▐ Versuchen Sie sich mit diesem Hintergrund mal wieder eine politische Diskussion anzuschauen, ▐ einer Predigt kritisch zuzuhören, ▐ oder beobachten Sie mal die Gespräche in ihrem privaten Umfeld.


Und nun das Wichtigste zum Schluss. ▐ Paulus betont: „Ich nahm mir vor, unter euch nichts zu wissen außer Jesus Christus und diesen als Gekreuzigten.“ ▐ Jesus, und zwar ausdrücklich Jesus als der Gekreuzigte ist für Paulus nicht nur ein Zusatz zu dem, was er über die Weisheit zu sagen hat, ▐ sondern offenbar das Fundament, auf dem seine Weisheitstheorie beruht.

Aber was bedeutet das? ▐ Was hat die Weisheit mit dem Gekreuzigten zu tun? ▐ Die Satirikerin Sarah Bosetti hat einmal gesagt, ▐ es wäre schön, wenn jeder, ▐ der ein politisches Programm verkündet▐ für mindestens einen Tag tauschen müsste mit derjenigen Person, ▐ welche durch eben dieses Programm benachteiligt wird.

Also, der Neonazi tauscht für einen Tag mit einem Ausländer,▐ diejenige, welche sich gegen die Aufnahme der Flüchtlinge ausspricht, tauscht für einen Tag mit einem der Flüchtlinge an der polnischen Grenze, ▐ Erdogan tauscht mit einer von ihm ins Gefängnis geworfenen Journalistin, ▐ ein Macho und Chauvinist mit einer Frau – am besten mit SEINER Frau … und so weiter und so fort.

Das, worauf sich der christliche Glaube gründet, ist auch so ein Tausch. ▐ Gott tauschte mit einem, der im Namen Gottes gekreuzigt wurde. ▐ Gott ist in diesem Sinne Mensch geworden.▐ Und zeigte den Menschen: Im Namen Gottes habt ihr Gott selbst gekreuzigt. ▐ Denn: Er ist anders, als Ihr ihn haben möchtet. ▐ Er steht nicht auf der Seite der Sieger, sondern auf der Seite deren, die in seinem Namen gekreuzigt werden. ▐ Er ist der Gott der Opfer eurer vermeintlich heiliger Wahrheiten, ▐ und der Gekreuzigte ihr Prüfstein. ▐ Deswegen sieht die apokalyptische Literatur den Gekreuzigten als den Richter, ▐ vor dem sich am Ende aller Zeiten alle, ja, auch alle Herrscher dieser Welt zu verantworten haben. ▐ Das ist eine starke Vorstellung.

Die Perspektive Gottes ist durch den Gekreuzigten die Perspektive der Opfer. ▐ Darin besteht die Weisheit Gottes, ▐ die die Weisheiten dieser Welt nicht aufhört zu stören, zu prüfen, ▐ radikal in Frage zu stellen, solange es die Welt gibt. ▐ Dieser Weisheit Gottes möchte ich uns heute anbefehlen in der Hoffnung, ▐ dass Gott im Jesus, dem Gekreuzigten ▐ trotz aller Gewalten dieser Welt ▐ doch schließlich und letztgültig das letzte Wort behält. AMEN

Resonanz, die gut tut.

Lieber G.,

eine großartige Predigt - sehe ich auch so ("Beifall").

Über den Bonhoeffer-Text habe ich kürzlich mit einer Patientin gesprochen. Der ist für mich seit langem bedeutsam.

In der Predigt hat die Frau Kristinova aber insgesamt neben dem philosophischen Teil auch die theologische Konsequenz ganz treffend zu einem Evangelium werden lassen. Danke und schöne Grüße an sie! B.

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Es ist noch nichts ​entschieden

Lk 19, 1-10

Borgsdorf Sept. 2020


Das Wort Gottes kommt zu uns als Predigt:

Trost zu erwecken dem Glauben,

Gericht zu sprechen dem Aberglauben,

aufzuerwecken den ermüdeten Glauben.

Gnade sei mit euch

und Friede von Gott, unserem Vater,

und dem Herrn Jesus Christus. AMEN


Der heutige Predigttext befindet sich im Evangelium nach Lk, im 19. Kapitel. Ich lese die Verse 1 - 10 in der Übersetzung der Elbefelder Bibel:


1 Und er ging hinein und zog durch Jericho. 2 Und siehe, da war ein Mann, mit Namen Zachäus genannt, und der war ein Oberzöllner und war reich. 3 Und er suchte Jesus zu sehen, wer er sei; und er konnte es nicht wegen der Volksmenge, denn er war klein von Gestalt. 4 Und er lief voraus und stieg auf einen Maulbeerfeigenbaum, damit er ihn sehe; denn er sollte dort durchkommen. 5 Und als er an den Ort kam, sah Jesus auf und erblickte ihn und sprach zu ihm: Zachäus, steig eilends herab! Denn heute muss ich in deinem Haus bleiben. 6 Und er stieg eilends herab und nahm ihn auf mit Freuden. 7 Und als sie es sahen, murrten alle und sagten: Er ist eingekehrt, um bei einem sündigen Mann zu herbergen. 8 Zachäus aber stand auf und sprach zu dem Herrn: Siehe, Herr, die Hälfte meiner Güter gebe ich den Armen, und wenn ich von jemand etwas durch falsche Anklage genommen habe, so erstatte ich es vierfach. 9 Jesus aber sprach zu ihm: Heute ist diesem Haus Heil[1] widerfahren, weil auch er ein Sohn Abrahams ist; 10 denn der Sohn des Menschen ist gekommen, zu suchen und zu retten, was verloren ist.


Liebe Gemeinde, es gibt kaum jemanden unter Ihnen, der oder die diese Geschichte nicht bereits von Kindertagen an kennen würde. ║ Eine literarische Schöpfung des Evangelisten Lukas, die es wegen ihrer Anschaulichkeit souverän in die Kinderbibel geschafft hat und zum festen Bestandteil des Religionsunterrichts wurde.

Dieser hohe Bekanntheitsgrad eines Predigttextes bedeutet für die Predigerinnen und Prediger, mit denen ich heute mein Schicksal teile, eine besondere Herausforderung: ║ Den alt bekannten Text abermals zu bemühen, ihm etwas Frisches abzuringen, etwas, was nicht schon gefühlte Tausendmal gesagt, und vielleicht viel besser gesagt worden ist.

Es gibt unzählige Themen, welche diese recht knapp dargestellte Geschichte von Zachäus in sich birgt. ║ Man kann hier wunderbar das Vorgehen einer göttlichen Pädagogik beobachten, die gewaltfrei eine radikale Veränderung bewirkt. ║ Auch könnte man über die Psychologie des kleinen Mannes reden, der im doppelten Sinne des Wortes hoch hinaus will. ║ Oder darüber nachdenken, was es eigentlich bedeutet, verloren zu sein. ║ Und was es heißt, gefunden zu werden. ║ Oder über das Wesen der wahren Freude. ║ Oder über die Anerkennung durch den Blick Gottes, welcher die verborgenen Potentiale des Menschen sieht und dessen freundlicher Blick aus jeglicher Schublade befreit. ║ Ja, der inhaltliche Reichtum dieser Geschichte ist beeindruckend und bestätigt abermals die Tatsache, welch gewaltige Weltliteratur die Bibel darstellt.

So verlockend alle die eben angesprochenen Themen auch sind, ich für meinen Teil entschied mich schließlich dafür, auf einen anderen Aspekt der Zachäus-Geschichte aufmerksam zu machen – schlicht aus dem Grund, dass er meine Aufmerksamkeit weckte und mich bis heute umtreibt. ║ Deswegen versah ich die heutige Predigt sogar mit einer Arbeitsüberschrift, die da lautet: ║ „Es ist noch nichts entschieden.“ ║ Was meine ich damit? ║ Nun, der Reihe nach.

Sie werden mir hoffentlich Recht geben, wenn ich sage, dass wir beim Lesen oder Hören einer Geschichte immer eine innere Zeitreise machen. ║ Einerseits sind wir gerade jetzt und hier, in unserer Gegenwart, andererseits aber, sobald uns eine Geschichte vorgelesen wird, kommt das so genannte Kopfkino in Gang und unsere Einbildungskraft versetzt uns in die Zeit und an den Ort der Geschichte.

Und er ging hinein und zog durch Jericho. – hören wir und haben automatisch eine mehr oder weniger genauere Vorstellung im Kopf, vorausgesetzt, wir verstehen die Sprache und es ja auch aus unserer Lebenserfahrung kennen, wie das ist, wenn jemand durch eine Stadt zieht. ║ Genauso können wir uns die neugierigen Menschen vorstellen, welche auf die Ankunft einer bekannten Persönlichkeit warten.

Gerade im Falle der Geschichten, welche uns besonders fesseln und anrühren, kann man - denke ich - mit Recht behaupten, dass sie uns in sich hinein ziehen. ║ Wie durch einen Zaubertrick sind wir ein Teil von ihnen. ║ Wir sind mitten im Geschehen, wie eine Art Beobachter am Rande, jedoch keine neutrale Beobachterin, sondern wir fühlen mit, regen uns auf, bangen, begeistern, empören uns, hoffen, dass alles gut ausgeht, sind entsetzt, enttäuscht usw und so fort.

Und wenn wir den Blick vom Buch heben oder die gehörte Geschichte zu Ende ist, tauchen wir dann auf wie aus einem Traum und sind irgendwie anders als vorher, bereichert um eine neue Erfahrung, auch eine Erfahrung mit uns selbst. ║ Deswegen wird Literatur auch das Labor des Lebens genannt.

So eine Erfahrung zu vermitteln ist ja auch der Sinn des heutigen Predigttextes. ║ Und ich denke auch die literarische und vor allem theologische Absicht des Verfassers. ║ Nur hat es die Geschichte von Zachäus nicht leicht mit uns als Hörern und Hörerinnen. ║ Warum? ║ Weil wir sie ja schon kennen. ║ Wir wissen ja, wie sie ausgeht. ║ Was kann da noch überraschen, oder betroffen machen. ║ Das Bekannte liest man gewöhnlicher Weise dann quasi vom Ende her. ║ Und die Spannung ist weg.

So stehen wir da im fiktiven Jericho, irgendwo am Rande der wartenden Menge, für die noch nichts entschieden ist. ║ Aber im Unterschied zu diesen Menschen, wissen wir ja bescheid. ║ Wir sind die Besucherinnen aus der Zukunft. ║ Und so wissen wir, was als nächstes passiert, und so überrascht uns nicht, dass Jesus sich ausgerechnet bei dem stadtberüchtigten und vielen geradezu verhassten Oberzöllner Zachäus einquartiert und ihn flapsig gesagt bekehrt.

(Oberzöllner - erklären)

Auch ist für uns, die Besucher aus der Zukunft, dieser umstrittene Wanderprediger gar nicht mehr umstritten: ║ Er ist der ausgewiesene und offiziell geglaubte Gottessohn. ║ Und als solcher tut er natürlich immer das Richtige.

Das ist jedoch den hier auf ihn Wartenden alles andere als klar. ║ Auch hier ist noch nichts entschieden. ║ An diesem Jesus scheiden sich stets die Geister. ║ Erinnern wir uns: Die Evangelien sind voller Geschichten, in denen Jesus die Tabus der rechtlichen, religiösen und moralischen Grenzen seiner Zeit sprengt. ║ Er berührt einen Aussätzigen, lässt sich berühren von einer Frau, die ihre Periode hat, lässt sich salben von einer Prostituierten, er ist erklärtermaßen ein Freund der Zöllner und Sünder. Er gibt die Frauen, die Ausländer und die Außenseiter den anderen zum Vorbild. Er ist kein Asket wie etwa Johannes der Täufer. Er isst und trinkt gerne, und nicht selten auch noch in einer schlechten Gesellschaft.

Auch sagt er nie von sich selbst, „Ich bin der Sohn Gottes“. ║ Selbst den Titel „Menschensohn“ benutzt er in der dritten Person.

Natürlich hat er mittlerweile nicht wenige „Fans“, offenbar kann er Menschen begeistern. ║ Die Menge jedoch, so sagen es die Evangelisten im Zusammenhang mit jeder von ihnen erzählten Geschichte, die Menge ist meist empört, erbost, oder zumindest befremdet und irritiert.

Ja, neben der Welle der Nachdenklichkeit und Begeisterung, die er zweifellos mit seinem Charisma auslöst, ergießt sich über ihn auch immer ein antiker Shittstorm. ║ Man bezichtigt ihn - wegen seiner Heilkunst - sogar eines Paktes mit dem Teufel selbst. ║ Man intrigiert gegen ihn, man stellt ihm Fallen, wartet auf jeden nächsten Fehler, den er macht.

Nun stehen wir im Geiste am Rande der wartenden Menge in Jericho und beobachten, was geschieht. ║ Wissen wir es wirklich besser? ║ Wenn ja, was würden wir denn den wartenden, gespannten, zweifelnden, empörten, erbosten Menschen seiner Zeit sagen? ║ Leute, dieser Jesus ist wirklich der Sohn Gottes? - Aha.

Nein, hier, an diesem einen Tag in Jericho ist noch nichts entschieden. ║ Ist er nun wirklich kraft seines Glaubens so souverän oder einfach nur arrogant? ║ Hat er wirklich eine Botschaft, oder will er einfach nur provozieren? ║ Mein weiß es nicht so ganz genau. ║ Und Sohn Gottes? – ruft da in meiner Phantasie jemand aus der Menge. ║ Soll das ein Witz sein? ║ Sohn Gottes? ║ Dieser Spinner?

Ja, woran erkennt man denn einen Sohn Gottes? ║ Wie mein Mann und ich unseren SchülerInnen zu sagen pflegen: Er trug ja keinen Heiligenschein damals als Erkennungszeichen seiner Besonderheit. ║ Seine Erkennungszeichen sind seine Worte und Taten. ║ Und die sind eben höchst umstritten. ║ Nein, noch ist nichts entschieden.

Und nun kommt dieser umstrittene Jesus nach Jericho und tut schon wieder etwas, was man so gar nicht richtig einordnen kann. ║ Es gibt so viele anständige Bürger in der Stadt und er besucht ausgerechnet diesen da.║ Das ist ungerecht, beleidigend. ║ Der übliche Mechanismus wird ausgelöst. ║ Die, welche auf einen weiteren Fehler von ihm warteten, reiben sich die Hände. ║ Die Menge empört sich. Einige haben ihren Spaß. ║ Einige aber werden nachdenklich, weil sie in diesem merkwürdigen Verhalten ein Muster zu erkennen und zu verstehen beginnen: ║ offenbar gibt es für diesen Jesus überhaupt kein Gebot, keinen Glaubenssatz, keine moralische Regel, die ihn daran hindern könnte, die Nähe von Menschen zu suchen, die seinen Beistand brauchen. (nach Drewermann , Das Lukas Evangelium, Bd 2, S. 491)

So zeigen uns die Evangelien, wie sich allmählich, Schritt für Schritt, Tat für Tat und Wort für Wort die Überzeugung formiert, ║ dass dieser Mensch hier mit seiner Botschaft der radikalen Menschlichkeit der Sohn Gottes sein könnte.

Aber wir sind immer noch nicht am Ende, und es ist immer noch nichts entschieden. ║ Denn dieser Mensch, welche so konsequent seinen Weg geht, endet dann doch am Kreuz, ║ und die Welt dreht sich ohne ihn weiter, und alles bleibt beim Alten – oder nicht? ║ Und die Botschaft von seiner Auferstehung … der schenke den Glauben wer will…

Nein, es gibt hier nichts, woran man festhalten könnte. ║ Keine greifbare, allgemein bewahrheitete Sicherheit. ║ Es ist nichts entschieden, bis zu dem Zeitpunkt, wo wir selbst die Entscheidung treffen, es mit diesem Jesus und seinem Gott zu versuchen║. Wo wir uns entscheiden, es wie Zachäus zu wagen, uns in den Dienst der Menschlichkeit zu stellen. ║ In der Hoffnung darauf, dass wir dann auch die Erfahrung machen, welche Lukas so umschreibt: ║ Heute ist diesem Haus Heil widerfahren.

Das Heil erfüllt sich für mich in dem Geschenk einer neuen Sicht auf die Welt. ║Dann sehe ich wie unzählige Zeuginnen und Zeugen vor und neben mir, dass Gott wirklich wirkt. ║Denn es gibt sie, die jetzt das sehen, wofür sie vorhin blind waren. ║Und es gibt auch das, dass die Trägen sich in Bewegung setzen für eine gerechte Sache. ║Und auch die Verstummten treten aus der schweigenden Mehrheit heraus und fangen an zu sprechen. ║Und die, die meinten, immer das erste Wort haben zu müssen, treten schweigend zur Seite. ║ Die Egomanen werden bescheiden, Geizhälse freigiebig, Schamlose können verlegen erröten, ║

Da kündigt Manager bei einem internationalen Multiuntenternehmen und gründet eine Non-profit-Firma ║ da bringt eine Journalistin unter dem Einsatz ihres Lebens die gefährliche Wahrheit ans Licht, ║da lässt sich eine Schiffskapitänin lieber verhaften als das Leben der geretteten Flüchtlinge zu gefährden ║ da sitzt ein Schulmädchen vor einem Regierungsgebäude und streikt für´s Klima ║ da betreibt eine Ärztin mitten im Bombenhagel in Aleppo ein unterirdisches Krankenhaus … und so weiter und mehr und noch mehr.

Immer wieder ein Lichtschein am Horizont, während sich die Welt weiter dreht, ║die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer werden, die Autokraten immer unverschämter, ║ Weiter werden überall auf der Welt Frauen unterdrückt, Kinder missbraucht, Flüchtlinge verjagt, politische Gegner gefoltert oder beseitigt, ║ und die Menge schaut schweigend zu, oder sich empört in vermeintlicher moralischen Überlegenheit und ruft: Kreuzige ihn.

Und wo stehen wir, wo stehe ich, wo stehst du?

Noch ist nichts entschieden, bis wir selbst die Entscheidung treffen.

Möge uns Gott des wahren Menschen Jesu Christi dazu helfen.

Amen.

​GLÜCK


PREDIGT ZU Ps 56, 10 , Borgsdorf 20.März 2022


Gnade sei Euch von Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesus Christus! Amen.

Liebe Gemeinde, ich predige heute zu der Tageslosung, dem Vers 9 des 56. Psalms. // Es handelt sich um ein kurzes doch starkes poetisches Bild, eine Metapher von großer Tiefe und Aussagekraft. Ich lese in der Übersetzung von Martin Luther:

9 Zähle die Tage meiner Flucht, / sammle meine Tränen in deinen Krug; ohne Zweifel, du zählst sie.

1 -

Das „Glück boomt“ - schreiben die israelische Soziologin Eva Illouz und der spanische Psychologe Edgar Cabanas in ihrem gemeinsamen Buch, Das Glücksdiktat. // Sie und viele anderen diagnostizieren für die heutige Zeit eine regelrechte Explosion des menschlichen Glücksbestrebens. // Seit den 90-er Jahre explodiert die Zahl der Glücksseminare.// Diverse Glücksratgeber füllen die Regale der Buchhandlungen.// Die Film- und Werbeindustrie wird auch nicht müde, uns täglich und stündlich Lebensentwürfe zu präsentieren, die mehr oder weniger überzeugend demonstrieren, was zu tun und wie zu leben ist, um wirklich glücklich zu sein.

Das Glück ist zu einer machbaren Möglichkeit erklärt worden. //„Heute liegt es an uns selbst,“ - schreiben die oben erwähnten Autor und Autorin - „negative Gefühle zu blockieren, uns selbst zu optimieren und [die sogenannte] Achtsamkeit zu praktizieren. Dann – so das Heilsversprechen – kommt auch das Glück.“ // Diese sozial und medial verbreitete Glücksreligion hat mittlerweile eine milliardenschwere Glücksindustrie hinter sich, die dank des naiven Glaubens an die Machbarkeit des Glücks immer größere Gewinne macht. //

Ich begegne einem typischen Zeichen eines solchen Glücksmodetrends immer wieder bei meinen Spaziergängen. // Hier und da ein Blick in den Garten oder Vorgarten, / und ich nehme wahr, wie selbst da, /wo sich die Menschen als Atheisten bezeichnen,/ ein lächelnder, putzig rundlicher Buddha thront, //- das sich immer größerer Beliebtheit erfreuende Symbol des unbeschwerten Lebensglücks. // Bei der Gelegenheit muss ich immer daran denken, dass sich Jesus – im Gegensatz zu Buddha – für eine solche ästhetische Vereinnahmung Gott sei Dank überhaupt nicht eignet//. Wer würde schon mit dem Bild eines am Kreuz gefolterten den eigenen Garten schmücken? //Das Kreuz erweist sich auch in diesem Fall als das, was die Stärke und Widerstandskraft des christlichen Glaubens ausmacht//. Es widersteht jeglicher Verniedlichung/ und kann nicht nach Belieben verharmlost und zwecks einer Glücksideologie privatisiert werden.

- 2 -

Dass sich das Glück erlernen lässt, ist einer der Glaubenssätze, der Dogmen dieser modernen Religion ohne Gott. // Und; was machbar ist, was also erreicht werden kann, /das soll auch erreicht und verwirklicht werden. // So wird aus einer Glücksverheißung eine Aufforderung, ein Imperativ, ja ein Glücksdiktat, dem sich die meisten bewusst oder unbewusst gehorsam beugen. // Ich weiß nicht, ob Sie auch meine Beobachtung teilen würden, aber sie ist nun mal so: // Ich nehme wahr, wie sich die Welt um mich herum in einen Jahrmarkt der Eitelkeiten verwandelt. // Die zwischenmenschliche Kommunikation wird zu einer Art Schaufenster, / in dem die meisten versuchen, sich von ihrer Schokoladenseite zu präsentieren.//

Der gute Job, die glückliche Familie, die gute Beziehung, der tolle Urlaub. // Erinnern Sie sich noch an die Werbung? - Meine Frau, meine Villa, meine Yacht.

Befindet sich ein zumindest zu sich selbst aufrichtiger Mensch unter so einer Menschenmenge, so muss er oder sie sich selbst zwangsläufig vorkommen wie ein Versager. // Er fängt an, sich für seine Unzulänglichkeit zu schämen. // Der Philosoph René Girard nennt dies „die Illusion der Einsamkeit“./// Dort, wo sich alle glücklich und erfolgreich gebärden, kann man für sich selbst nur zu einem solchen Ergebnis kommen, /dass man der einzige Mensch ist, der nicht hierher passt, der nicht genügt. // Wir schämen uns für unsere Unzulänglichkeit und spielen das Spiel schnell mit. // Es muss sich verdammt noch mal auch bei mir etwas finden lassen, womit ich vor den Anderen punkten kann. / /Nur die Klugen unter uns kommen irgendwann auf die Idee, dass dieses einzelne schwarze Schaf eigentlich jeder und jede von uns ist, /.und dass wir uns in Wirklichkeit alle gegenseitig etwas vormachen.

Das kollektive Schauspiel wäre erst mal nur amüsant, wenn es nicht dramatische Folgen hätte. // Denn mit der Illusion des machbaren Glücks geben wir zugleich einen gesellschaftlicher Erfolgsdruck weiter und schlimmer noch,/ produzieren so eine gnadenlose Unbarmherzigkeit, /mit der wir mit uns selbst und mit unseren Nächsten umgehen. // Geht es dir schlecht, so musst du doch etwas falsch gemacht haben, bzw. du machst etwas falsch. - Das ist er zweite Glaubenssatz der Glücksreligion. // Ja, vielleicht siehst du das einfach zu pessimistisch; /sieh es doch mal positiv. // Und regt dich doch nicht auf. // Die möchte gerne christliche Variante solcher Expertisen lautet in der Regel:/ Dann glaubst du halt nicht richtig.

Die forensische Psychologin Heidi Kastner zählt dieses volkstümliche Expertentum zu den Merkmalen von Dummheit. // Sie schreibt: / „Es erstaunt mich immer wieder, / in wie vielen verschiedenen Bereichen sich Menschen solches Wissen und solche Fähigkeiten zuschreiben, // Menschen, die für die Reparatur einer Waschmaschine mit größter Selbstverständlichkeit einen Fachmann oder zumindest einen einschlägig kundigen Bekannten rufen würden. //Aber kaum fragt man sie zu einem deutlich komplexeren Thema, (zum Beispiel: Leben, K. K.) / sprudeln die Gewissheiten nur so heraus / und münden in ein Meer von guten Ratschlägen, /das sich bei näherer Betrachtung als Sumpf mit unsicherem Boden erweist.“ (27)

Eine Gesellschaft, die dermaßen auf die Machbarkeit des Glücks setzt versklavt sich selbst. // Und dabei geht ihr etwas extrem wichtiges Verloren. // Ich nenne das den Sinn fürs Tragische. // Wissen Sie noch, die antiken Tragödien, / die Verse der klassischen Dichter und Dichterinnen, / die biblische und außerbiblische Literatur / und das Herzstück jedes Evangeliums, die Passion? // Da dreht sich doch alles um das menschliche Unglück, Leid und Schmerz und Scheitern. // Mit dem kleinen, großen, ja, gewaltigen Unterschied: // Dass es unabhängig von der Leistung und Einstellung einfach geschieht – wie eine Art Naturereignis. // Das ist die Tragik – dass die dunklen Seiten des Lebens im Endeffekt eine uns unverfügbare Schicksalsmacht darstellen, den wir erst mal einfach ausgeliefert sind. //

Deswegen sind die Heldinnen und Helden der antiken Literatur nicht die zufriedenen Erfolgreichen, / die alles richtig gemacht haben. // Diese Figur ist ein sehr junger amerikanischer Mythos. // Nein, die antike Literatur dreht sich um eine vom Schicksal getroffene, / unheimlichen Strukturen und Kräften ausgelieferte Figur, / / für die sie eigentlich nichts kann, zu denen sie sich aber mit aller Offenheit und dem ganzen Spektrum ihrer Emotionalität verhält.

Der antike Mensch musste vieles erdulden und erleiden, aber eines musste er nicht: // Er musste nicht auf Teufel komm raus glücklich sein. // Er und sie war frei zur Klage, zur Wut, zu Trauer, zu Verzweiflung und auch zum so genannten Versagen.

- 3 -

Für mich bildet gerade die jüdisch-christliche Tradition den Höhepunkt einer solchen Befreiung. // Denn hier wird das Allzumenschliche von Gott bzw. von Göttern nicht nur geduldet, / nicht nur mit nachsichtiger Überlegenheit mitgetragen, / sondern Gott geht uns auch auf diesem Wege voran, / indem er sich an die Spitze der Leidenden stellt / und sich uns gerade als solcher, als ein unglücklicher Leidender offenbart. // Gott riskiert es und zeigt sich uns in Jesus leidend, weinend und scheiternd, / - während wir einander unsere Erfolgsrezepte präsentieren. // Ja, vielleicht scheitert er gerade an uns, / u.a. daran, dass wir einen solchen Gott nicht ertragen, / dass wir uns einen solchen Gott nicht wünschen. // Deswegen passt ja auch der lächelnde Buddha besser zu unserem Lebensarrangement als der leidende Jesus.

Aber: // Sich von der höchsten Instanz auf diese Weise zum Unglück, zum Scheitern, zu Verzweiflung, ja, zu Tränen befreit zu wissen, das macht doch auf paradoxe Art und Weise doch irgendwie glücklich, oder? // Still verbreitet sich eine tiefe Zufriedenheit in der Seele eines Menschen, / der sich dessen bewusst wird, dass er in seinem Elend liebevoll verstanden und tröstend aufgenommen wird. // Ja, ich bin unglücklich, traurig, wütend und verzweifelt –

aber das alles darf ich vor Gott sein! // Ich darf vor dem menschlichen Gott ganz Mensch sein. // Und als solche und solcher werde ich nicht nur geduldet, /sondern geschätzt und geliebt. // Denn jeder Tag und jede meiner Tränen werden von dem selbst leidenden und mitleidenden Gott aufgefangen und aufbewahrt. //

Das ist die Paradoxie des Glaubens: // Während Glücklich-sein-zu- müssen vor der Welt unglücklich macht, / kann Unglücklich-sein-zu- dürfen vor Gott mit einer tiefen Zufriedenheit erfüllen, die ich persönlich als Glück empfinde.

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Natürlich bleibt es eine berechtigte Frage und ein Anstoß, / wenn Menschen sagen, / was hilft ein Gott, der selbst am Kreuz hängt, /der nichts mehr kann, als meine Tränen zu zählen?

Ich habe vor einigen Tagen einen Antwortversuch in einer kurzen Szene eines Films gefunden. // Es handelt sich um die Verfilmung einer Tragödie aus dem Jahr 1945 an einer kopenhagener Schule. // Die US-Artillerie bombardiert fälschlicher Weise eine katholische Grundschule statt des Nazi-Hauptquartiers. // Über 100 Kinder und alle Lehrkräfte, alles Ordensschwestern, / werden zu Opfern dieses Fehlschlags. // Als das zusammenbrechende Schulgebäude mit den in den Tod stürzenden Kindern und Lehrerinnen gezeigt wird, / schwenkt die Kamera zu der Figur des Gekreuzigten, / welche sich im Treppenhaus, hoch über dem grauenvollen Geschehen befindet. // Der Blick der Abstürzenden und der Blick des Gekreuzigten begegnen sich... und für einen kurzen Moment wird es still. // Dann, erst dann bricht alles zusammen. //

Aber diese Sekunden der Stille, / sie sind intensiver als alles, was zuvor war und als alles, was danach kommt. // Da zieht der Blick des leidenden Gottes die sterbenden Menschen in seinen Bann und hält sie für einen, / sich wie eine Ewigkeit anfühlenden Augenblick fest. // Die intime Gemeinschaft der Leidenden im Augenblick des Todes. // Sie wirkt auf mich unendlich tröstlich.

Ich stelle mir vor, / statt Jesus würde der letzte Blick der Sterbenden einem lächelnden Buddha gelten, oder der Figur des mächtigen Zeus oder Odin – nein, das wäre kein Trost, sondern purer Zynismus. // Und würde es sich um eine atheistische Schule handeln, / so würden die Augen der Sterbenden nur eine leere Stelle an der Wand streifen. // Und eine solche Szene stünde nun symbolisch für das menschliche Leid angesichts des kalten gleichgültigen Universums.

So zeigt der erwähnte Film innerhalb von wenigen Sekunden die Antwort auf die Frage, was der gekreuzigte Gott eigentlich vermag. // Er, der leidende Gekreuzigte, kann im Vergleich zu den anderen Göttern der Welt, im Leid tragen und trösten. // Er vermag von naiven Illusionen hin zu einem nüchternen Realismus zu befreien und er kann inmitten der Realität der Welt Trost schenken.

In dieser Gewissheit denke ich in diesen Tagen vor allen an die Abertausende leidende, trauernde, flüchtende und heimatlose Schwester und Brüder, / von denen einige bereits seit einigen Jahren unsere MitbürgerInnen sind, / und einige gerade unsere Gäste werden. / Und bete zusammen mit dem Schöpfer des Psalms:

9 Zähle die Tage meiner Flucht, / sammle meine Tränen in deinen Krug; /ohne Zweifel, du zählst sie. // Ohne Zweifel, du zählst sie. // Ohne Zweifel. // AMEN

Jesus gegen Philosophien 

Kol 2, 3 - 10

25.12.2022 Borgsdorf

Der heutige Predigttext findet sich im Brief an die Koloser im 2. Kapitel.

 Ich lese die Auswahl der Verse 3 – 10 in der Übersetzung Martin Luthers:

3 In ihm liegen verborgen alle Schätze der Weisheit und der Erkenntnis. 4 Ich sage das, damit euch niemand betrüge mit verführerischen Reden. 6 Wie ihr nun angenommen habt den Herrn Christus Jesus, so lebt auch in ihm, 7 verwurzelt und gegründet in ihm und fest im Glauben, wie ihr gelehrt worden seid, und voller Dankbarkeit. 8 Seht zu, dass euch niemand einfange durch die Philosophie und leeren Trug, die der Überlieferung der Menschen und den Elementen der Welt folgen und nicht Christus. 9 Denn in ihm wohnt die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig, 10 und ihr seid erfüllt durch ihn, der das Haupt aller Mächte und Gewalten ist.

Liebe Gemeinde,

War das ein Jubel als mit dem Beginn der Neuzeit der eine Philosoph mit dem Schnauzer Gott für tot erklärte, und der andere, nach dessen Tagesrhytmus man sich die Uhr stellen konnte, die Kraft der menschlichen Vernunft über alle Autoritäten stellte.Endlich frei von der Knechtschaft Gottes und seiner verstaubten Kirche, deren Macht über Jahrtausende bis in die intimsten Bereiche des menschlichen Lebens reichte. Endlich frei atmen, befreit von strengen Blick des ewigen Aufpassers, endlich frei denken dürfen, befreit von dem Befehl, seinen Verstand den kirchlichen Dogmen zu unterwerfen.Ich kann dieser Euphorie sehr gut nachspüren. Doch aus der heutigen Sicht, aus der Sicht eines Menschen, der im Vergleich zu den Menschen damals weiß, wie diese Geschichte der Befreiung weiter ging, weiß ich, auf welch tönernen Füßen diese Revolution des menschlichen Geistes stand.

Die beiden Philosophen, deren Texte zu programmatischen Parolen der neuen Freiheit wurden, ich meine Friedrich Nietzsche und Immanuel Kant, waren viel skeptischer oder sagen wir realistischer als deren begeisterte Leser.

Liest man den berühmten Text Nietzsches von Tode Gottes weiter, so findet man geradezu prophetische Worte. Nietzsche jubel nicht, im Gegenteil: Er weiß, dass der Mensch, nachdem er sich Gottes entledigt hat, in eine tiefe Krise fallen wird.Mit der Abschaffung Gottes fällt nämlich das, worauf das menschliche Leben gründet: Der Sinn. Wer, welche Instanz wird uns jetzt Orientierung geben und Sinn spenden? Plötzlich findet sich die vermeintlich glücklich befreite Menschheit vor in einer kosmischen Einsamkeit, angesichts eines kalten Universums, welches sich nicht im mindesten darum schert, ob es uns gibt oder nicht.

Die Wahrheit, welche sich hinter der Botschaft der Gottlosigkeit verbirgt ist geradezu unerträglich in ihrer Brutalität: Wofür lebe ich? - fragt der Mensch. Und das gottentleerte Universum, wenn es antworten könnte, würde ihm antworten: Für nichts. Ob es dich gibt oder nicht – das ist mir vollkommen egal.

So meinte das der Philosoph Friedrich Nietzsche: Gott ist tot, und die Welt leer. Das große Nichts haucht uns an, uns, die wir hoffnungslos verwaist sind. So enthüllt der große Philosoph erneut die fundamentale Wahrheit, die man bis heute gar nicht so gerne wahrhaben möchte: Dass der Preis der Gottlosigkeit die absolute Sinnlosigkeit ist. Und dass der Mensch, das sinnsüchtige Wesen, trotz des ganzen Autonomiegehabes, trotz der noch so lauten Unabhängigkeitsbekundungen sinnsüchtig und deswegen gottbedürftig ist und bleibt.

Auch die Zeitansage des zweiten großen Philosophen, den Philsophen der Aufklärung, Immanuel Kants, trägt eine skeptische Note und ist alles andere als bequem. Auch er weiß über un Menschen mehr als uns lieb ist.Ja, wer mit dem eigenen Verstand denkt, ist in der Tat frei von fremden Autoritäten. Insofern ist die menschliche Vernunft auch die höchste Autorität. Aber nur dann, wenn man sie auch tatsaächlich benutzt. Und zu verkünden „Wir sind alle aufgeklärt“ - das ist noch lange kein Denken, sondern nur gedankenloses Nachplappern. Ja schlimmer noch: Es ist eine unbewusste und äußerst klischeehafte Glaubensaussage eines Menschen, der behauptet, nichts zu glauben, ohne zu merken, dass auch das nichts anderes ist als Glaube.

Gottbedürftig und glaubensbedürftig – so bleibt der Mensch auch nach dieser Euphorie der Aufklärung. Das unterscheidet ihn im Nichts von den Menschen der Antike, also den Menschen der Zeit, aus der unser heutige Predigttext stammt. Was hier jedoch einen gravierenden Unterschied ausmacht ist, dass sich der moderne möchtegerne aufgeklärte Mensch dieser seiner Bedürftigkeit gar nicht mehr bewusst ist.Auch darin waren uns die antiken Menschen um vieles voraus. Denn nicht wir, sondern sie waren darüber aufgeklärt, dass ein menschliches Leben ohne Gott und ohne Glauben nicht denkbar ist. Deswegen stand für die antiken Menschen gar nicht zu debatte, ob es Gott gibt oder nicht, ob man gläubig ist oder nicht. Natürlich war das so. Die Frage war nur, welcher Gott ist glaubwürdig genug, so dass ich ihm mein Vertrauen schenken und mein Leben auf ihm gründen kann.

Circa 1000 Jahre später betritt die Bühne der Weltgeschichte ein Mönch aus Deutschland, der in seinem Katechismus das Thema Gott brillant auf den Punkt bringt: Gott ist das, worauf du dein Herz hängst und worauf du dich verlässt. - So gesehen – da muss man die Worte Dr. Martin Luthers im Sinne Immanuel Kants selbständig weiter denken – so gesehen gibt es keinen Menschen, der keinen Gott hätte und der nicht gläubig wäre.

So gesehen herrscht heute wie damals eine ähnliche Situation: In der antiken Stadt, welche in unserem Predigttext adressiert wird, waltet – wie überall im Römischen Reich – die Vielgötterei. Das bunte Gemisch an Nationalitäten, Religionen und philosophischen Schulen blüht und gedeiht. Rom ist da etwa so tolerant wie später der Friedrich der Große: Jeder soll nach seiner Fasson selig werden. Jedoch solange er oder sie neben seinen oder ihren Göttern die römischen Staatsgötter nicht vernachlässigt.

Und wie heute so auch damals: Alle diese Götter konkurrieren um die Gunst des Menschen mit allen Mitteln der Werbekunst. Die Ware, die sie anbieten, ist die Erlösung. Und wie heute so auch damals ist die Verpackung besonders wichtig. Hier bietet der religiöse Supermarkt alles, was das Herz begehrt. Für jeden findet sich hier das Passende.

Manche mögen es spektakulär – für die gab es okkulte Vereinigungen mit so einigem Hokus-Pokus an Hellseherei oder Heilungswundern. Manche mögen es exklusiv – für diese gab es wiederum die Geheimbunde, deren Mysterien nur die Auserwählten und Eingeweihten beiwohnen durften.

Ähnlich heute. Der Abschied von Gott schuf kein Sinnvakuum, sondern eine Flut an Sinnangeboten. Von einem westeuropäischen Abklatsch der östlichen Religionen, allen voran des Buddhismus, über unzählige Yoga- und Meditationskurse, oder autogene Trainigsangebote, die positiv psychologische Anleitungen zu der sogenannten Selbstoptimierung, bis hin zum modernen Schamanismus und sogar Hexenglauben – es ist alles dabei. Dann gibt es auch die Wissenschaftsgläubigen: Also – und das dokumentiert auch unser Predigttext – geben sich einige religiöse Strömungen gerne den Titel „Philosophie“. Das klingt rational, gelehrt, seriös, wissenschaftlich.

Sehen Sie auch hier die Parallele zu heute? Was sich heute nicht alles gerne Philosophie nennt? Man könnte fast den Eindruck gewinnen, dass dieses Volk nur aus Philosophen und Philosophinnen besteht. Angefangen mit der plumpsten Ratgeberliteratur, über möchtegern erbauliche Bücher voller kitschigen Kalendersprüche, bis hin zu diversen Wirtschaftsunternehmen, die so gerne ihre Geschäftsphilosophie präsentieren. Nicht selten sagt man: Darüber müssen wir jetzt nicht philosophieren – und meint damit: Bloß nicht spekulativ drum herum reden. Nicht umsonst hat die Philosophie im Bereich der Grund- und Oberschule oft den Ruf eines unverbindlichen, unterhaltsamen und harmlosen „Laberfachs“, wo man gute Noten quasi umsonst bekommt.

An dieser Stelle muss ich meine Lanze für die wahre Philosophie brechen, die mir bis heute eine geliebte Schwester der Theologie ist, und zum großen Teil mit ihr das gemeinsame Schicksal teilt. „Keine Wissenschaft ist so vielen Vorurteilen ausgesetzt, wie die Philosophie.“ - schreibt der Philosoph Philipp Hübl in seinem Buch mit dem amüsanten Tiel: Folge dem weißen Kaninchen … in die Welt der Philosophie (16). Und er versucht, diese Vorurteile zu berichtigen, indem er mit folgenden Sätzen darüber aufklärt, was einen richtigen Philosophen, eine richtige Philosophin ausmacht:

(17f.) „Heute sind Philosophen Ärzte ohne theoretische Grenzen, die nicht nur Sprachverwirrungen therapieren, sondern Unsinn in allen Lebenslagen entlarven. Sie arbeiten mit einem Wahrheitsdetektor, der Alarm schlägt bei den Worthülsen der Politik, der Propaganda der Werbung, den Klischees des Kinos und den Fehlschlüssen in Fernsehsendungen und Zeitungsberichten.“ - Nach diesen Sätzen werden Sie mir hoffentlich recht geben, dass eine solche Philosophie unsere und jede Gesellschaft mehr als nötig hat.

Wir haben gesehen – beide Zeitepochen – die Zeit der Antike sowie die heutige Zeit - sind sich in ihrem Überangebot an Glaubensinstanzen sehr ähnlich. Nur sind die vermeintlich aufgeklärten Menschen der heutigen Zeit gerade über sich selbst nicht aufgeklärt: Über ihre Gott- und Glaubensbedürftigkeit. Weil der antike Mensch diese seine Bedürfnisse kannte und sie nicht leugnete, konnte er sich zwischen den vielen Glaubensangeboten relativ souverän orientieren und diese auch kritisch betrachten. Der heutige Mensch hingegen ist durch seinen gedankenlosen Glauben an die eigene Gott- und Glaubenslosigkeit diesen geistigen Mächten hilflos ausgeliefert.

Die Regel ist also: Nicht der gläubige, sondern der gottlose Mensch ist den Göttern seiner Zeit ausgeliefert.

Es sind nur die Theologie und die wirkliche Philosophie, welche diese dramatische Lage durchschauen. Hierzu ein Beispiel aus der Philosophie. Der Philosoph Max Weber schreibt in seinem Werk „Wissenschaft als Beruf“: „Die alten vielen Götter, entzaubert und daher in Gestalt unpersönlicher Mächte, entsteigen ihren Gräbern, streben nach Gewalt über unser Leben und beginnen untereinander wieder ihren ewigen Kampf.“ Der vermeintlich gottlose Mensch, welcher sich frei von allen Göttern und allem Glauben wähnt, ist in Wirklichkeit in dieser seiner Blindheit den Göttern dieser Zeit ausgeliefert.

Der Verfasser unseres Predigttextes weiß um diesen Kampf der Götter, und um die Verführungskraft, welche von solchen Pseudophilosophien ausgeht. Und offenbar gab es auch damals einige Christinnen und Christen, die angesichts der verführerischen Attraktivität dieses Überangebots zu schwanken anfingen. Nicht dass sie sich unbedingt von dem damals noch sehr jungen Christentum abkehren und für eine der sogenannten Philosophien entscheiden, sondern eher, weil sie glauben, man könne beides ganz gut miteinander kombinieren. Hier bleibt der Verfasser unseres Predigttextes jedoch konsequent. 3 In ihm, das heißt in Jesus, findet man alles - alle Schätze der Weisheit und der Erkenntnis. 4 Lasst Euch nicht betrügen mit verführerischen Reden. 6 Also lebt in Christus, 7 verwurzelt und gegründet in ihm und fest im Glauben. 8 Seht zu, dass euch niemand einfange durch die Philosophie und leeren Trug.

Liebe Gemeinde, jetzt müssten Sie als denkende Hörerinnen und Hörer kritisch anmerken, dass es sich hier gewissermaßen um eine ziemlich dogmatische Argumentation handelt.

Der christliche Glaube ist im Vergleich zu den anderen Glaubensangeboten wahr und wahrhaftig, weil … warum eigentlich? - Weil wir es in ihm mit Jesus Christus zu tun haben.Mit einem solchen Argument kämen wir heute nicht sehr weit. Zu der Zeit unseres Predigttextes jedoch scheint der Name Christi als ein Code fungiert zu haben, der ohne weitere größere Erklärungen verstanden wurde. Wir müssen uns hier einige Merkmale vor Augen führen, die mit diesem Code „Jesus Christus“ eng verbunden waren und die den christlichen Glauben im Vergleich zu den anderen Glaubensangeboten auszeichneten und bis heute auszeichnen.

1. Der christliche Glaube war und ist kein Billigangebot. Er bedient weder unsere Befindlichkeit noch unsere Bequemlichkeit, sondern verlangt uns so einiges ab. Wer glaubt, macht sich auf den Weg der Nachfolge Christi, muss also auf ein äußerst unbequemes Leben gefasst sein, stets bereit sein, sich im Namen Gottes gegen den Strom zu stellen, seine Sicherheit an den bedürftigen Nächsten zu riskieren. Der christliche Glaube ist somit auch ein Anspruch, der uns viel abverlangt – keine harmlose Übung zur Selbstoptimierung.

2. Der christliche Glaube verspricht kein schnelles, einfach zu habendes Glück. Er verführt nicht mit der naiven Illusion, das Wesentliche unseres Lebens könne man mithilfe bestimmter Techniken erwerben. Nein, er macht uns da keine Illusionen: Das Wesentliche ist und bleibt eine unverfügbare Gabe Gottes.

3. Der jüdisch-christliche Glaube ist keine abgehobene Spinnerei, sondern ein radikal bodenständiger Realismus. Er ruft uns ständig die verstörenden existentiellen Tatsachen in Erinnerung. Wir werden stets dazu angehalten, zu bedenken, dass wir bedürftig, angewiesen, empfänglich und sterblich sind, auf dass wir klug werden.

4. Diese Tatsache ist besonders brisant in einer Zeit des propagierten Glaubens an immer mehr, immer schneller, immer höher, an einen unendlichen Wachstum und die unbegrenzten Möglichkeiten des selbstmächtigen Menschen.

5. Diese ungewöhnliche Qualität des christlichen Glaubens rührt her von seinem Ursprung, dem Gott Jesu Christi. In Jesus betritt den Ring, in dem verschiedene Gottheiten um Vorherrschaft kämpfen, ein ganz neuer, ganz anderer Gott. Ein Gott, der sich auf alles Menschliche einlässt, und so um den Menschen wirbt. Dieser Gott durchläuft alle Höhen und Tiefen des Menschseins, beginnend mit der Ohnmacht eines Kindes, schmeckend die Einsamkeit eines für Gerechtigkeit Kämpfenden, und endend mit dem leider häufigen Preis der engagierten Mitmenschlichkeit, dem Kreuz.

6. Die ersten Christinnen und Christen trafen ihre Wahl. Von allen den Göttern, welche die damalige geistige Welt im Angebot hatte, haben sie sich für diesen, den menschlichsten von allen entschieden.

Liebe Gemeinde, schon damals wie heute tobt der Kampf der Geister um die menschliche Seele.  Schon damals wie heute ist es umso notwendiger, die Kunst der Unterscheidung zu lernen. Der heutige Predigttext ist uns hier ein guter Lehrmeister, indem er uns ein starkes und zuverlässiges Kriterium an die Hand gibt: Jesus Christus, in dem uns Gott vormacht, wie ein menschliches Leben geht und wie eine menschliche und menschenwürdige Welt aussehen könnte,  wenn wir an ihn so glauben würden, wie er an uns.  In diesem Sinne ist dieser Gott die beste Wahl. 

Ein gesegnetes Weihnachtsfest! AMEN

Verp​asst nicht das Jetzt!

Mk 13, 28 - 37

20.11.2022, Borgsdorf

Liebe Gemeinde, der heutige Predigttext findet sich in dem Evangelium nach Markus, im 13. Kapitel. Ich lese die Verse 28 bis 37 in der Übersetzung Martin Luthers:

28 An dem Feigenbaum aber lernt ein Gleichnis: Wenn seine Zweige saftig werden und Blätter treiben, so wisst ihr, dass der Sommer nahe ist. 29 Ebenso auch, wenn ihr seht, dass dies geschieht, so wisst, dass er nahe vor der Tür ist. 30 Wahrlich, ich sage euch: Dieses Geschlecht wird nicht vergehen, bis dies alles geschieht. 31 Himmel und Erde werden vergehen; meine Worte aber werden nicht vergehen. 32 Von jenem Tage aber oder der Stunde weiß niemand, auch die Engel im Himmel nicht, auch der Sohn nicht, sondern allein der Vater.

33 Seht euch vor, wachet! Denn ihr wisst nicht, wann die Zeit da ist. 34 Es ist wie bei einem Menschen, der über Land zog und verließ sein Haus und gab seinen Knechten Vollmacht, einem jeden seine Arbeit, und gebot dem Türhüter, er sollte wachen: 35 So wacht nun; denn ihr wisst nicht, wann der Herr des Hauses kommt, ob am Abend oder zu Mitternacht oder um den Hahnenschrei oder am Morgen, 36 damit er euch nicht schlafend finde, wenn er plötzlich kommt. 37 Was ich aber euch sage, das sage ich allen: Wachet!

2. (Zwei Zeiten dieser Welt) -

„In dieser Welt gibt es zwei Zeiten.“ - schreibt Alan Lightman, in seinem Buch „Und immer wieder die Zeit“. „Die mechanische Zeit und die Körperzeit. Die erste ist so starr und metallisch wie ein massives Pendel, das hin- und herschwingt, hin und her, hin und her. Die zweite windet sich und zappelt wie ein Thunfisch in einer Bucht. Die erste ist unbeugsam, vorherbestimmt. Die zweite entschließt sich von Fall zu Fall.“ (29)

Es gibt sie noch, die Menschen, welche nach der Körperzeit leben – erzählt Lightman weiter. „Solche Menschen essen, wenn sie Hunger haben, gehen zu ihrer Arbeit […], wenn sie wach werden, gehen zu jeder Tageszeit mit dem oder der Geliebten ins Bett. Solche Menschen lachen über die Idee der mechanischen Zeit. Sie wissen, daß die Zeit ruckweise voranschreitet. Sie wissen, daß sie sich mit schwerer Bürde vorwärtskämpft, wenn sie mit einem verletzten Kind ins Spital eilen oder den starren Blick eines Nachbarn ertragen müssen, dem sie Unrecht getan haben. Und sie wissen auch, daß die Zeit dahinhuscht, wenn sie mit Freunden bei einem guten Essen sitzen, wenn sie gelobt werdend oder in den Armen ihrer heimlichen Geliebten liegen.“(30f.)

Und dann gibt es jene, die ausschließlich nach der mechanischen Zeit leben. Ihr Tagesablauf ist vorherbestimmt, ihre Woche ist ein Ritual. „Wenn ihr Magen knurrt, blicken sie auf die Uhr, um zu sehen, ob Essenzzeit ist. Wenn sie sich in einem Konzert zu verlieren beginnen, schauen sie auf Uhr über der Bühne, um zu sehen, wann es Zeit wird heimzugehen.“ (31)

(Alan Lightman, Und immer wieder die Zeit. Einstein´s Dreams, 1998 München.)

Es gibt die Quantitätsmenschen, die sich in der mechanischen Zeit wohl fühlen und es gibt die Qualitätsmenschen, die mit und in der Körperzeit leben.

- 3. (Chronos und Kairos) -

Das, was Alan Lightman hier mit neuen Worten umschreibt, ist eine uralte Empfindung, die überall dort bekannt ist, wo der Mensch mit der Zeit rechnet.// Das griechische Denken und die altgriechische Sprache markieren dieses doppelte Zeitgefühl mit zwei Worten, von denen das eine auch den Eingang in unsere Sprache fand. Die alten Griechen kannten die Zeit zum einen als den Chronos. Chronos war der ehemals höchste Gott des griechischen Pantheon, der aus Angst um seine Macht seine eigenen Kinder fraß, bis ihn einer seiner Söhne, Zeus, vom Thron stürzte.

Im weiteren Verlauf wird aus Chronos diejenige Auffassung von der Zeit, die wir heute noch verwenden, wenn wir von der sogenannten Chronologie sprechen. Chronos ist die Zeit in seiner regelmäßig messbaren Form, so wie sie die Uhr oder der Kalender aufzeigt. Auch das Unbarmherzige des alten, um seine Macht besorgten Gottes ist dieser Form von Zeit geblieben. In der Tat scheint die Chronos-Zeit eine grausam gefräßige Kraft zu sein, denn sie läuft Sekunde für Sekunde, Minute für Minute unaufhaltsam davon und bringt uns rücksichts- und gnadenlos dem Tod immer näher.

Es gibt noch ein anderes Wort und eine andere Auffasung von der Zeit im griechischen Denken: Es ist der Kairos, das, was wir mit dem Ausdruck „die richtige Zeit“ oder der „richtige Augenblick“ bezeichnen. Während der Chronos, die kontinuierlich ablaufende Zeit unterschiedslos dahin fließt, ist der Kairos das, was sich von diesem gleichmäßigen Zeitfluss erhebt, und unser Leben mit Bedeutsamkeit versieht, wenn er einen besonderen Punkt, ein besonderes Ereignis unseres Lebens markiert. Die Kairos-Zeit widersetzt sich im gewissen Sinne dem unbeugsamen Chronos und spielt ihm immer wieder als seine Unterbrechung einen Strich durch die Rechnung.

Es fühlt sich an, wie ein Besuch aus der Ewigkeit, der uns diese kurz schmecken lässt.

Da, wo unser Leben eine solche Unterbrechung erfährt, halten wir inne, vergessen die rhytmisch und regelmäßig dahinfließenden Minuten und bleiben, zeit- und selbstvergessen im Jetzt des besonderen Augenblicks. Erst wenn dieser vorbei ist, erwachen wir wie auch einem Traum und schauen auf die Uhr und sagen überrascht: Ach, schon so spät, ich habe die Zeit total vergessen. Wenn das geschieht, haben wir den Kairos erlebt und waren kurz oder länger (diese Begriffe sind hier merkwürdig fehl am Platz) frei von der zwingenden Macht des Chronos.

Vom Kairos, der richtigen Zeit, dem Augenblick, spricht auch schon der Prediger, wenn er im 3. Kapitel konstatiert, dass alles seine Zeit hat.

Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde:

geboren werden hat seine Zeit, sterben hat seine Zeit; pflanzen hat seine Zeit, ausreißen, was gepflanzt ist, hat seine Zeit;

töten hat seine Zeit, heilen hat seine Zeit; abbrechen hat seine Zeit, bauen hat seine Zeit;

weinen hat seine Zeit, lachen hat seine Zeit; klagen hat seine Zeit, tanzen hat seine Zeit;

Auch der Prophet Jesaja (49,8) ruft aus:

»Siehe, jetzt ist die willkommene Zeit, siehe, jetzt ist der Tag des Heils!

Und vom Kairos, der richtigen, der besonderen Zeit spricht auch das Neue Testament, wenn es davon erzählt, dass Gott seinen Sohn sandte „als die Zeit erfüllt war“.

„Als die Zeit erfüllt war“ – was für eine schöne und treffende Bezeichnung der Macht des richtigen Augenblicks. Manchmal machen wir alles richtig, alles passt, kein Fehler unterläuft uns, und doch scheitern wir und unser Vorhaben misslingt. Es war wohl nicht die richtige Zeit. - sagt uns dann jemand Kluges. Und wir nehmen an, ja, so wird es wohl sein. Es war wohl alles richtig, nur die Zeit hat nicht gestimmt.


Verpasst nicht das Jetzt!

Mk 13, 28 - 37

20.11.2022, Borgsdorf


Denn das kennen wir auch: Wenn die richtige Zeit kommt, dann geschehen Dinge, die wir vorher vergeblich, hartnäckig und mit großer Mühe versucht haben, herbeizuführen, wie von selbst.

Nicht nur die Bibel oder andere religiöse und philosophische Literatur kennen dieses Phänomen, sondern auch die Märchen wissen um die Macht der richtigen, der erfüllten Zeit.

Denken Sie z.B an das Märchen vom Dornröschen – 100 Jahre versuchen Prinzen aus dem ganzen Land vergeblich, die Dornenmauer zu durchdringen und die schlafende Prinzessin zu befreien. Dann sind die von der Fee auferlegten 100 Jahre um, und der Prinz, welcher dann kommt, muss gar nicht gegen die Dornenbüsche kämpfen – sie gehen ihm wie von selbst aus dem Wege. Es ist die richtige Zeit, die Bedingung und das Geheimnis des Gelingens.

Da haben wir sie also, die zwei Zeiten, in denen wir leben. Die eine, der mechanische Chronos, in dessen Takt wir unser Alltag erledigen und unser Lebensunterhalt bestreiten, und dann die andere, der Kairos, die Zeit der besonderen Augenblicke, der Unterbrechungen und Wendepunkte unseres Lebens.

Die erste, der Chronos, hat es mit der Lebensquantität, die zweite jedoch mit der Lebensqualität zu tun.

Und obwohl uns die chronologie der allgegenwärtigen Uhren von morgens bis abends zu beherrschen scheint, ist es in Hinblick auf unsere Lebensqualität dann doch die andere Zeit, auf die es ankommt, wenn wir von einem guten, einem erfüllten Leben sprechen. Und daher ist Kairos die Zeit Gottes.

4. (Das Jetzt und die Zukunft) -

Unser Predigttext ist jedoch ein sogenannter eschatologischer Text: Er thematisiert das Ende, auf das hin wir uns bereit halten sollen. Was hat also das Ende mit meinen Erzählungen über den Kairos zu tun?

Ich behaupte, so wie es zweierlei Verständnisse der Zeit gibt, so gibt es auch parallel dazu zwei Verständnisse des sogenannten Endes. Das eine Ende hat es mit der Quantität, das andere Ende mit der Qualität zu tun. Und ich behaupte zudem, wer auf das chronologische Ende wartet, verpasst das eschatologische Ende, die richtige, die erfüllte Zeit.

Denn: Das Ende und das Jetzt gehören zusammen. Und zwar aus dem einfachen Grund: Weil auch die Zukunft in Gestalt eines Jetzt kommt. Wenn sie nämlich kommt, ist sie nicht mehr Zukunft, sondern Gegenwart. Und zwar die Gegenwart als das entscheidende Jetzt, welches wir nicht verpassen dürfen.

Wer sich also auf das Ende hin bereit halten will, der oder die soll sich in der Wachsamkeit auf das entscheidende Jetzt üben.

Einer meiner Professoren, der berliner Systematiker Wolf Krötke, sprach in diesem Zusammenhang von Zeiten, die er als ewigkeitsrelevant bezeichnete. Es gibt Momente in der Zeit, in denen sich die Ewigkeit bei uns meldet und auf sich aufmerksam machen möchte.

Es sind Zeiten, in denen sich vor unseren Augen das ereignet und manifestiert, was von unvergänglichem Wert ist. Das, was alle die einander abwechselnden Moden und Wahrheiten überdauert und sich wahrer und beständiger erweist. Bleiben wir für diese Offenbarung blind, so verpassen wir mit der richtigen Zeit auch deren Anschluss an die Ewigkeit Gottes. Wer den Kairos verpasst, verpasst Gott.

- 5. (Üben für die Ewigkeit) -

Doch wachsam zu bleiben für das göttliche Jetzt – gerade das scheint für uns, die Menschen der heutigen hektischen und geschäftigen Zeit, gar nicht so einfach zu sein, zwingt uns doch das Tempo des modernen Lebens immer einen Schritt voraus zu sein. Da füllen sich schon im September die Regale mit Lebenkuchen und Weihnachtsmännern, und kaum sind die Winterfeiertage vorbei, spucken bald die Schoko-Osterhasen in den Regalen der Supermärkten. Es ist eine besonders perverse Art, mit der Zeit, die ja unsere Lebenszeit ist, umzugehen: So zu leben, dass man sie stets verfehlt. Und ich habe immer mehr den Eindruck, dass es eine besonders perfide Strategie ist, die Menschen zu manipulieren und zu beherrschen, indem man sie in einem nie endenden Kreislauf von Leistungsdruck und Konsumzwang vor sich hin hetzt und sie so jeder Möglichkeit beraubt, kurz anzuhalten und Luft zu holen. Bloß nicht im Jetzt verweilen, sondern stets schon mit einem Fuß in der Zukunft, die man dann natürlich auch verpasst, weil man inzwischen schon nach der nächsten Zukunft Ausschau hält.

Der naive moderne Aberglaube daran, dass wir alles einschließlich unseres Lebens in der Hand haben, äußert sich auch in der vermeintlichen Herrschaft des Menschen über die Zeit. Unsere gesellschaftlichen aber auch manche private Terminkalender reichen Jahre voraus. Die Tage sind akribisch durchgetaktet. Kommt einmal die SBahn zu spät, macht sich am Bahnsteig eine stille Panik breit. Es ist spannend zu beobachten, wie schwer es uns fällt, die sogenannte Normalität loszulassen, wenn ab und zu mal der Verkehr wegen eines Orkans still steht, oder wenn sich der Kreislauf der Welt wegen einer Pandemie verlangsamt. Vielleicht müssen wir auf diese Art wieder mal neu lernen, zu begreifen, wie wenig wir die Herren über unsere Wirklichkeit sind. Und mehr noch: Lernen, auf die Zeichen der Zeit zu achten und angemessen zu reagieren, anstatt sich weiterhin gegen sie blind zu behaupten.

Kein Wunder, dass wir unter dem Einfluss des allgemein verbreiteten Glaubens an die Eigenmächtigkeit und Machbarkeit die Unterbrechungen seitens der höheren Gewalt nicht aushalten können, und stets versuchen, ihnen zu entfliehen. Das Anhalten, Stillhalten, Sich-Einlassen – das haben wir verlernt. Es macht uns Angst, denn dann müssen wir das vermeintliche Sicherheitsnetz unserer Zeitplanung verlassen und uns einer unheimlichen Macht des Unverfügbaren unterwerfen.

Dabei sind genau diese Unterbrechungen die wichtigsten und entscheidendsten Momente unseres Lebens. Ohne sie wären wir nicht, was wir sind. Wir hätten keine Lebensgeschichte und keine Identität.

Ich rede hier die ganze Zeit von Unverfügbarkeit, von einer höheren Macht, wohl wissend, dass es für dieses Phänomen längst ein anderes Wort gibt. Ein uraltes Wort „GOTT“

Einige wenige haben es begriffen und verkünden leider anstelle der an dieser Stelle meist schweigenden Kirche, dass es höchste Zeit ist, den Kampf gegen die Macht des Unverfügbaren, Kampf gegen Gott zu beenden. Dass es höchste Zeit ist, mit ihm Frieden zu schließen.

D.h. wenn er kommt und uns in unserer Geschäftigkeit unterbricht, ihn nicht zu vertreiben, sondern als Gast zu empfangen und in ihn wieder Vertrauen zu fassen.

Es ist höchste Zeit, wieder anfangen zu lernen, mit ihm zu leben. Der Ort, an dem wir beginnen können, heißt die richtige Zeit, das besondere JETZT. Möge Gott geben, dass wir wachsam bleiben, um ihn nicht zu verpassen, wenn er in diesem Jetzt zu uns kommt, um uns aus den Zwängen der weltlichen Zeit hinauszuführen in die Freiheit seiner Ewigkeit. AMEN.

Gesichter der Bösen

Predigt zu Mt 4, 1-11 am 18.02.2024

Liebe Gemeinde, das Böse hat viele Gesichter. Vielleicht hatten Sie auch, als Sie in der heutigen Schriftlesung das Wort Teufel bzw. Satan hörten (Das Evangelium des Sonntags ist auch der Predigttext) erst einmal die traditionellen Bilder des Mittelalters vor Augen: das Wesen mit Hörnern, Pferdefuß und Schweif, welches die Menschen verhexen und ins Verderben stürzen kann. Auch die antiken Bilder eines blutrünstigen Monsters, das die Menschen bei lebendigem Leibe frisst, sind vielleicht einigen von Ihnen bekannt. Dann ist da auch noch der schlaue, listige, wortgewandte und emotionslose Mephisto in Goethes „Faust“. (2) Oder der Besucher mit rötlichem Haar und der Artikulation eines Schauspielers, mit dem Adrian Leverkühn in Thomas Manns Roman „Doktor Faustus“ einen Pakt eingeht, um sich Inspiration und Erfolg zu sichern. (3)   Die Philosophin Hannah Arendt entdeckte bei der Beschäftigung mit dem Prozess um Adolf Eichmann das banale Gesicht des Bösen. Das eines blassen Bürokraten, der nach seinen eigenen Worten nie jemanden umgebracht hatte. Doch war er als Schreibtischtäter für die gesamte Organisation der Deportation von Juden aus Deutschland und den besetzten europäischen Ländern zuständig.(4) Das moderne Bild des Bösen zeigt uns vor allem die Filmkunst. In dem Film „Im Auftrag des Teufels“ aus dem Jahr 1997 wird der Teufel als ein attraktiver jedoch skrupelloser Gentleman im schwarzen Anzug von Al Pacino dargestellt. Es gibt noch ein Gesicht des Bösen, von welchem möglicherweise eine besonders große Gefahr ausgeht: Es ist das Verführerische, das Verlockende, das Attraktive. Von einem solchen Gesicht erzählt unser Predigttext. Es steht im Evangelium nach Matthäus, im 4 Kapitel. Ich lese die Verse 1 bis 11 in der Übersetzung der Bibel „Hoffnung für alle“:

1 Danach wurde Jesus vom Geist Gottes in die Wüste geführt, wo ihn der Teufel versuchen sollte. 2 Vierzig Tage und Nächte lang aß er nichts. Der Hunger quälte ihn. 3 Da kam der Teufel zu ihm und forderte ihn heraus: "Wenn du Gottes Sohn bist, dann mach aus diesen Steinen Brot!" 4 Jesus antwortete: "Nein, denn es steht in der Heiligen Schrift: 'Vom Brot allein kann niemand leben. Leben kann nur, wer Gottes Wort aufnimmt und befolgt!'" 5 Da nahm ihn der Teufel mit nach Jerusalem und stellte ihn an den Rand der Tempelmauer. 6 "Spring hinunter!" forderte er Jesus auf. "Du bist doch Gottes Sohn! Und es steht geschrieben: 'Gott wird seine Engel schicken. Sie werden dich auf Händen tragen, und du wirst dich nicht einmal an einem Stein verletzen!'" 7 Jesus entgegnete ihm: "Es steht aber auch geschrieben: 'Du sollst Gott, deinen Herrn, nicht herausfordern!'" 8 Nun führte ihn der Teufel auf einen hohen Berg und zeigte ihm alle Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit. 9 "Das alles gebe ich dir, wenn du vor mir niederkniest und mich anbetest", sagte er. 10 Aber Jesus wies ihn ab: "Weg mit dir, Satan, denn es steht geschrieben: 'Bete allein Gott, deinen Herrn, an und gehorche ihm!'" 11 Da gab der Teufel auf und verließ ihn. Und die Engel Gottes kamen und sorgten für Jesus.

 

Liebe Gemeinde, es ist eine faszinierende Geschichte, deren Tiefe ich sicher nicht ausschöpfen werde. Aber vielleicht kann ich Sie wenigstens auf einiges aufmerksam machen und Sie zum weiteren Nachdenken inspirieren.

 

II.

Unsere Geschichte beginnt in der Wüste. Jesus wird nach seiner Taufe vom Geist Gottes in die Wüste geführt. Schon über diesen Satz könnte man lange reden. Ich denke hier an diejenigen Momente im Leben von Jesus, in denen er sich – laut den Evangelisten - von der Menge in die Einsamkeit zurückzieht, meist auf einen Berg, um zu sich selbst zu kommen. Der Berg ist für ihn anscheinend ein Ort der heilsamen Einsamkeit, um das Leben im Zwiegespräch mit Gott neu zu justieren. Ähnlich die Wüste. Sie steht für die totale Einsamkeit jenseits jeglicher Zerstreuung und Abwechslung. Hier, der kargen Landschaft und ewiger Stille ausgeliefert, ist der Mensch ganz auf sich selbst geworfen. Auf sich selbst geworfen - das ist ein Zustand, den nicht sehr viele aushalten. Schon ein stundenlanger Spaziergang allein am Strand kann für manche Menschen zu einer qualvollen Herausforderung werden. Der Blick richtet sich nach innen, ich werde mit mir selbst konfrontiert, ich muss mich mir selbst stellen. Längst verdrängte Ängste, Sorgen, Gedanken, Schmerz und Wut fangen an, sich umso hartnäckiger zu melden, je mehr ich sie zu verscheuchen versuche. Sie reißen uns mit sich in ein Wechselbad der Gefühle. Solche Momente der Einsamkeit lassen uns unabgelenkt ins Gesicht der Realität blicken und in unsere eigenen Abgründe. Nicht viele wagen einen solchen Blick und meiden deswegen Einsamkeit und Stille. In solchen Momenten sind wir besonders angreifbar und verletzlich, aber auch offen und ansprechbar. Wer eine solche radikale Begegnung mit sich selbst wagt, kommt in der Regel aus ihr gereinigt und gefestigt heraus. Nicht ohne Grund haben die Mystikerinnen und Mystiker nach solchen Orten der Abgeschiedenheit gesucht. Nicht ohne Grund beginnt das Wirken Jesu mit dem Aufenthalt in der Wüste.

 

III.

Gerade deswegen inszeniert der Evangelist in einem genialen dramaturgischen Griff eben hier die Begegnung von Jesus und dem Teufel. Der Teufel, wie ihn hier das Matthäusevangelium darstellt, ist eine spannende Gestalt. Er ist redegewandt, intelligent und durchtrieben. Er ist theologisch versiert und bibelkundig. Er operiert nicht mit Gewalt, droht nicht, verbreitet keine Furcht, sondern argumentiert und lockt. Gerade darin müsste uns diese Teufelsgestalt ziemlich vertraut sein. Denn einem wachen Blick entgeht nicht, dass wir in einer Gesellschaft leben, die für uns tausendfache alltägliche Verführungen bereitet, um uns als brave Konsumenten und gehorsame Leistungsträgerinnen zu dressieren. Dies tut sie nicht mit Drohung oder Gewalt, sondern indem sie uns mit geradezu teuflischer Präzision manipuliert, unserem Ego schmeichelt, unsere Eitelkeit herauskitzelt und unsere Bequemlichkeit bedient. Der Medienwissenschaftler Neil Postman analysiert treffend, wie die psychologisch geschulte Werbeindustrie unsere Sehnsucht nach Belohnung und Beachtung, nach Glück, Sicherheit und Geborgenheit bespielt. In seinem berühmten Werk „Wir amüsieren uns zu Tode“ schreibt er: „Bilder von Filmstars und berühmten Sportlern, von ruhigen Seen und Macho-Fischern auf einer Hochseeyacht, von einem eleganten Dinner oder einem romantischen Intermezzo, von fröhlichen Familien, die ihren Kombi für ein Picknick auf dem Lande packen – sie sagen nichts über die Produkte, die da verkauft werden sollen. Doch sie sagen alles über die Ängste, die Phantasien und Träume derer, die sie kaufen sollen. Wer einen Werbespot in Auftrag gibt, der muss nicht die Stärken eines Produkts, sondern die Schwächen des Käufers kennen. [...] Die Fernsehwerbung hat dazu beigetragen, daß die Wirtschaft auf die Steigerung des Eigenwertes ihrer Produkte heute weniger bedacht ist als auf die Steigerung des Selbstwertgefühls ihrer potentiellen Kunden.“ 5 So werden in uns künstliche Bedürfnisse geweckt und die schnöden Dinge unseres Alltags in begehrenswerte Statussymbole verwandelt, über die wir unsere Identität definieren und von deren Besitz wir unser Selbstwertgefühl beziehen. (5)  Vor allem der typisch menschliche Hang zur Bequemlichkeit bietet eine perfekte Gelegenheit, um Menschen unter dem Vorwand einer Entlastung von der lästigen Denkarbeit und der Befreiung von riskanten Entscheidungszwängen zu manipulieren und sogar zu versklaven.

In diesem Zusammenhang kommt mir Erich Frieds Gedicht, „Die Abnehmer“, in den Sinn:(6)

Einer nimmt uns das Denken ab

Es genügt seine Schriften zu lesen und manchmal dabei zu nicken

Einer nimmt uns das Fühlen ab

Seine Gedichte erhalten Preise und werden häufig zitiert

Einer nimmt uns die großen Entscheidungen ab über Krieg und Frieden

Wir wählen ihn immer wieder

Wir müssen nur auf zehn bis zwölf Namen schwören

Das ganze Leben nehmen sie uns dann ab

 

Das Böse der abendländischen Moderne ist also kein bedrohliches Monster, sondern ein attraktiver Verführer, glänzender Psychologe und Theologe, und damit ein ausgesprochener Experte für die Korrumpierbarkeit des Menschen, mit anderen Worten für das, was die Theologie die Sünde nennt.

 

IV.

Diese blitzgescheite teuflische Logik ist auch in der Versuchungsgeschichte zu finden. Der Teufel des Matthäusevangeliums ist ein brillanter Argumentationsstratege, versierter Theologe und vorzügliche Kenner des Allzumenschlichen. Schon der erste Versuch zeigt seine profunde Menschenkenntnis. „Wenn du Gottes Sohn bist, dann mach aus diesen Steinen Brot!" - sagt der Teufel. Wer sich hier gleich auf die Brotfrage konzentriert, übersieht leicht die wahre Intention dieser Aussage. Denn mit der Herausforderung, vor die der Teufel Jesus stellt, kommt unauffällig eingeschoben die wirkliche Falle, in die Jesus tappen soll. Die Falle verbirgt sich im ersten Satz: „Wenn du Gottes Sohn bist“. Als Sohn Gottes müsstest du die Macht haben, aus Steinen Brot zu machen – sagt der Teufel und definiert damit, was es bedeutet, Sohn Gottes zu sein. Damit trifft er genau den Punkt, um den es in Jesu Wüstenaufenthalt geht: Die Frage nach der eigenen Identität, die Frage, wer bin ich vor Gott, was ist die Idee Gottes von mir. Wenn Jesus diese Herausforderung annehmen würde, würde er sich auf die Spielregeln des Teufels einlassen, und mehr noch, sich unter dessen Deutungshoheit beugen. Das heißt, er würde sich vom Teufel diktieren lassen, wer er eigentlich ist. Das tut der matthäische Jesus nicht, sondern stellt der Deutungshoheit des Teufels die Deutungshoheit Gottes entgegen: „Nein, denn es steht in der Heiligen Schrift: 'Vom Brot allein kann niemand leben. Leben kann nur, wer Gottes Wort aufnimmt und befolgt!‘“

Das bedeutet zunächst (1): Brot ist für das menschliche Leben zweifellos notwendig, doch nicht hinreichend. Ein erfülltes Leben ist viel mehr als ein biologisches Existieren. Und in Hinblick auf die Identitätsfrage des Gottessohnes heißt das (2): Seine Aufgabe ist, den anderen, den geistlichen Hunger zu stillen. Mit dieser Entgegnung entzieht sich Jesus der Definitionsgewalt des Teufels und kommt in Hinblick auf die Identitätsfrage sich selbst einen Schritt näher.

Nun kommt die zweite Falle. Vordergründig geht es darum, dass der Teufel Jesus beim Wort nimmt: Du glaubst also dem Wort Gottes. Zeig, wie stark dein Glaube ist und spring herab von der Tempelmauer. Es steht doch geschrieben: „'Gott wird seine Engel schicken. Sie werden dich auf Händen tragen, und du wirst dich nicht einmal an einem Stein verletzen!'" Sich auf diese Herausforderung einzulassen, würde wieder einmal bedeuten, sich vom Teufel die Spielregeln diktieren zu lassen. Aber es bedeutete noch mehr: Es wäre ein Versuch, über Gott selbst zu verfügen und damit die eigene Gottesbeziehung aufs Spiel zu setzen.

Genau das aber verweigert Jesus. "Es steht aber auch geschrieben: 'Du sollst Gott, deinen Herrn, nicht herausfordern!'"- antwortet er und klärt damit gleich den zweiten Teil seiner Identitätsfrage, sein Gottesverhältnis. Er akzeptiert ohne Ausnahme Gottes Unverfügbarkeit und wird selbst dadurch für den Teufel unverfügbar.

Schließlich spricht der Teufel Klartext und offenbart seine wahren Absichten. Er zeigte ihm alle Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit. "Das alles gebe ich dir, wenn du vor mir niederkniest und mich anbetest". Darum ging es faktisch von Anfang an. Dieser außergewöhnliche Mensch mit scharfem Verstand, brennendem Herzen und einem charismatischen Auftreten – was für eine Wunderwaffe in den Händen des Bösen! Der Teufel ist bereit, einen extrem hohen Preis zu zahlen, um Jesus – sagen wir es im Jargon des Personalmanagements – für sein Unternehmen und dessen Philosophie zu gewinnen. Mit einem klaren „Weg mit dir, Satan“ schlägt Jesus den angebotenen Pakt aus und zeigt sich als endgültig unkorrumpierbar. Und ich sehe vor meinem inneren Auge den Satan mit einem schiefen Lächeln von Jesus weichen, und frage mich, was ist das, was Jesus bei Gott fand, das, was für ihn mehr als die ganze Welt, mehr als alles bedeutete? - Meine Antwort ist: Es ist die Freiheit von dieser Welt. Dass wir freie Menschen sein können, ist das Geschenk der Gottesbeziehung, einer Beziehung, die wir eingehen dürfen und sollen, weil nur sie allein uns frei macht.

 

V.

Unsere Geschichte begann in der Wüste und sie endet in der Wüste. Das macht Mut. Jesus kehrt als ein geläuterter, freier Mensch in die Welt zurück, um für die Menschen da zu sein. Dass seine Einsamkeit damit nicht vorbei ist, bezeugen die Evangelien vielfach. Er trägt also die Wüste weiter mit sich. Doch, der Teufel verlässt ihn und die Engel kommen und dienen ihm – heißt es in den meisten Übersetzungen. Es wäre allerdings falsch, sich diese Szene wie eine Krönungszeremonie vorzustellen, in der er auf einem Thron sitzt, umgeben von himmlischen Dienern. Im griechischen Urtext steht für das Wort „dienen“ das Verb diakonein. Wir kennen es aus der Bezeichnung „Diakonie“. Es heißt vielmehr sich kümmern, um jemanden sorgen, für jemanden Sorge tragen. Die Wüste und die existentielle Einsamkeit bleiben, doch mitten in dieser sorgt Gott für seine Kinder. Das tut er mithilfe seiner Botinnen und Boten. Das ist die eigentliche Bedeutung des griechischen Wortes angelos, Engel. „Dich schickt der Himmel!“ - sagen wir in solchen Situationen. Das sind die Momente, in denen unsere eigene Wüste, unsere existentielle Einsamkeit durch den überraschenden Besuch einer solchen Botin oder eines solchen Boten erträglich gemacht wird. Und wir dankbar vernehmen, dass uns unser Gott auf diese Weise nicht verzweifeln lässt. Und so wünsche ich uns allen, dass wir in unserem Leben immer wieder neu schmecken, was nur Gott geben kann: Die wunderbare Freiheit von und für diese Welt; Gottes Beistand in unserer Einsamkeit und schließlich auch die Erfahrung, dass wir auch in der letzten Einsamkeit des Todes nicht tiefer fallen können als in Gottes Arme. AMEN

2 In Johann Wolfgang von Goethes Tragödie (1808/1832) vertritt die Teufelsgestalt Mephistopheles „die absolute Verneinung und den Willen zur vollständigen Vernichtung. Da er nicht glaubt, daß der Mensch nach Höherem strebt und der Verführung des Teufels widerstehen kann, erbittet er von Gott die Erlaubnis, Faust zu versuchen“ (A. und W. van Rinsum, Lexikon literarischer Gestalten. Deutschsprachige Literatur, Stuttgart 21993, 323).

3 Thomas Mann, Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn erzählt von einem Freunde (1947). Das betreffende Gespräch mit dem Teufel, das wohl auch als Selbstgespräch interpretiert werden kann, findet sich im 25. Kapitel des Romans.

4 Siehe Hannah Arendt, Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, München 1964.

5 Neil Postman, Wir amüsieren uns zu Tode, Urteilsbildung im Zeitalter der Unterhaltungsindustrie, 158.

6 In: Erich Fried, Gründe. Gesammelte Gedichte, hg. v. Klaus Wagenbach, Berlin 1989, 25.

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