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Predigt zu Ez 34

 Borgsdorf 18.April 2021


Liebe Gemeinde, der heutige Predigttext sind die Worte des Propheten Ezechiel aus dem 34. Kapitel. Ich traf wegen der Länge des Textes eine eigene Versauswahl:

„Weh, Ihr Hirten Israels (…).Die Herde weideten ihr nicht. Die Schwachen habt ihr nicht gestärkt, das Kranke nicht geheilt, was gebrochen, nicht verbunden, was sich verlaufen hat, nicht zurück geholt, was verloren, nicht gesucht (…). So zerstreuten sie sich ohne Hirten, (…) in die Irre ging meine Herde. (…) Wahrlich, darum, dass meine Herde zum Raub geworden, zum Fraß allem Feldgetier- nicht kümmerten sich meine Hirten um meine Herde (…). Deshalb Hirten, hört JHWHs Wort: (…) Ich komme über die Hirten. Ich fordere meine Herde von ihrer Hand (…) ich rette meine Herde aus ihrem Maul (…) ich sammle sie aus allen Ländern (…). Was verloren, will ich suchen, was sich verlaufen, hole ich zurück, was gebrochen, verbinde ich, das Kranke stärke ich (…). Ich setze einen Hirten über sie, der sie weiden soll (…) und sie sollen nicht mehr Hunger leiden im Lande, nicht mehr sollen sie tragen Beschämung durch die Völker. Sie sollen erkennen, dass ich Jahwe ihr Gott mit ihnen bin und sie sind mein Volk (…). AMEN

1. Heute wähle ich einen etwas ungewohnten Anfang: Ich erzähle Ihnen etwas über den Radikalen Konstruktivismus, eine philosophische Richtung, die sich in den letzten Jahrzehnten sowohl eines regen Interesses erfreut, als auch für nicht wenig Irritation und Kritik sorgt. Einer der Grundgedanken des K ist, dass wir die SchöpferInnen unserer eigenen Wirklichkeit sind. Dass wir also stets, meistens ohne es zu merken, mit unseren Ansichten, Worten und allgemein mit unserem Verhalten eine Wirklichkeit schaffen, ja, konstruieren.

2. So schaffen wir durch unsere eigene Sichtweise nicht nur unser eigenes Weltbild, sondern auch ein Bild unserer Selbst, welches wir dann durch unser Reden und Verhalten den Anderen präsentieren. Und schließlich – und darauf kommt es mir heute an – schaffen und präsentieren wir stets auch das für uns verbindliche Gottesbild.

3. Wenn Sie mal etwas gegen die Langeweile im Gottesdienst tun möchten, dann beobachten Sie, welches Gottesbild Ihnen die Pfarrerin, der Pfarrer durch die Art ihrer oder seiner Präsenz im Gottesdienst da gerade vor Augen malt. Denn mit Worten, mit Liturgie und mit Verhalten sowie dem Geist des Gottesdienstes wird immer ein Bild von dem vermittelt, woran wir glauben- und woran wir nicht glauben. Was wir tun und was wir lassen und auch die Art, wie wir es tun – das alles verrät über das, woran wir unser Herz hängen – also über unseren wahren Gott - mehr als uns lieb ist.

4. Ich könnte Ihnen mit diesem Tipp vielleicht die Langeweile ersparen, möglicherweise aber nicht den Ärger oder die Enttäuschung oder sogar die Wut. Denn dann merken Sie vielleicht, dass auch ein schlechter Gottesdienst und eine nichtssagende Predigt nicht nur eine Leere, ein geistiges und geistliches Vakuum hinterlassen, sondern dass auch sie etwas schaffen, bewirken. Sie erzeugen das Bild eines Götzen, mit dem das Gottesbild verstellt wird. Sie richten Schaden ein.

5. Die Religionsgeschichte, ja auch die Geschichte des Christentums ist immer zugleich auch die Geschichte der Gottesbilder. Sie lösen einander ab, sie konkurrieren miteinander, sie werben um die Seele der Menschen.

6. Was es nicht schon alles an Gottesbildern gab: der himmlische König, der strenge Richter, der Kriegsfürst, der Friedensfürst, der Wächter der Moral und der Sitten, der frauenfeindliche Diktator, der mächtige himmlische Vater, der es schon richten wird, der harmlose Wunschonkel, der angsteinflössende Kinderschreck…- Sie sehen: eigentlich stets männlich und selten sympathisch.

7. Gott sei Dank wurden und werden diese Projektionen der menschlichen Machtverliebtheit stets in Frage gestellt durch die anderen Bilder: die des fürsorglichen Hirten, des verständnisvollen Vaters, der tröstenden Mutter und schließlich durch das Bild des Gottes Jesu Christi, das des leidenschaftlichen Menschenfreundes.

8. Es scheint, als ob Gott selbst ankämpfen würde gegen die Verstümmelung und Karikierung seiner Göttlichkeit. Das tut er mit Hilfe seiner Freundinnen und Freunde: der biblischen sowie der modernen Propheten und Prophetinnen. An dieser Stelle darf nicht vergessen werden, dass es nicht selten gerade unsere atheistischen Geschwister waren, welche uns mit ihrer Religionskritik von dem einen oder anderen falschen Gottesbild befreit haben.

9. Es ist ja das Gottesbild, welches die Art unseres Verhaltens verrät. Und es ist das Gottesbild, welches von dem Stand unserer geistigen und geistlichen Reife zeugt. Und es ist – wie schon anfangs betont – das Gottesbild, welches unsere Gottesdienste, Predigten und unser kirchliches Handeln bezeugen sichtbar werden lassen – ob bewusst oder unbewusst.

10. So kann es geschehen – und leider auch geschieht – , dass Menschen zum Gottesdienst kommen, vielleicht nicht nur aus Gewohnheit oder aus einem Traditionsbewusstsein. Es kommen Suchende, sich nach Gemeinschaft, Trost oder Stück Heimat Sehnende, Menschen, die nach einem lebendigen und wahrhaftigen Wort hungern, Menschen, deren verletzte Seele nach Heilung, deren Verzweiflung nach Erlösung ruft. Wie oft treffen sie da auf einen Gott, der ihrer Not heilsam eine Sprache verleiht, statt an ihnen mit frommer Ignoranz vorbei zu reden? Wie oft können wir mit Recht sagen, dass wir als nach Gott Suchende und nach seinem Wort Hungernde im Gottesdienst wirklich satt werden, dass uns die Sprache der Predigt sättigt und stärkt für die Tage danach? Wie gehen solche – ernsthaft suchende – Menschen von einem solchen Gottesdienst wieder nach Hause? Und wie oft werden sie noch einen solchen Versuch noch wagen, bis sie dann endgültig weg bleiben? An wie vielen Menschen hat sich so die Kirche, die Theologie, die Gemeinde, – haben wir uns – inzwischen versündigt?

11. Ein slowakischer Theologie-Professor äußerte in der Zeit meines Studiums nachdrücklich immer wieder den Gedanken, dass mit den enttäuschten Gott-Suchenden auch Gott selbst aus der Kirche ausgewandert sei und nun bei denen wohnt, die ihn wirklich brauchen und sich für ihn ernsthaft interessieren. Der Hirte hat sich seine eigene Herde aus der Hand der falschen Hirten befreit und selbst zusammen geführt.

12. Einige wenige Beispiele hierfür: Das politische Kabarett, welche das Gegenteil der vielfach beklagen Sprachverdrossenheit beweist. Da füllen bestimmte RednerInnen ganze Fußballstadien. Es kommen Tausende, und sind bereit auch nicht wenig dafür zu zahlen, um sich einen mehrstündigen Monolog anzuhören. Offensichtlich hungern und dürsten die Menschen nach dem lebendigen Wort. Warum finden sie es aber nicht bei uns, bei der Instanz, die sich laut ihrer eigenen Auskunft dem Wort so radikal verpflichtet fühlt? Dann ist da noch die Kunst, die von der Transzendenz d.h. von der Unverfügbarkeit lebt, während die Kirche mittlerweile immer mehr einem Leistungs- und Effektivitätsideal folgt. Und nicht zuletzt die investigativen JournalistInnen, die mutig ihre Stimme gegen Unmenschlichkeit erheben und ihr Leben einsetzen für eine menschlichere Welt – wenn das keine Nachfolge Christi ist im Sinne von Mt 25! Unzählige mutige DemonstrantInnen, MenschenrechtlerInnen und u.a. werden verfolgt, bedroht, beleidigt, aber auch umgebracht und gefoltert, weil sie ihr Leben in den Dienst der Wahrheit, Menschlichkeit und Gerechtigkeit stellen. Kann es sein, dass Gott inzwischen bei diesen seine wahre Herde gefunden hat, dass sich also sein wahres Volk schon längst nicht mehr nur innerhalb der Grenzen der Kirche, des Christentums oder gar der Religion zählen lässt?

13. So kommt es zu einer schicksalhaften Grenzverschiebung. Die Trennung zwischen Glauben und Unglauben verläuft dann nicht mehr zwischen der Kirche und der Welt oder Religion und dem sogenannten Atheismus, den Christen und den Heiden, sondern sie verläuft mitten durch jede dieser Gruppen.

14. Der wahre vom falschen Glauben wird unterschieden mit Hilfe eines neuen Kriteriums. Gott setzt den neuen Hirten Jesus Christus ein, um seine neue Herde aus allen Teilen der Welt zusammenzuführen. Er bekennt sich zu allen, die sich leidenschaftlich in den Dienst der radikalen Menschlichkeit stellen – wie sein Sohn.

15. Vielleicht ist das die neue Kirche, die sich da formiert. Und vielleicht stehen innerhalb dieses neuen Volkes Gottes plötzlich solche Menschen Seite an Seite, wie es bisher nicht denkbar gewesen wäre. Christin neben einem Atheisten, Moslem neben einer Jüdin, ein Heide neben einem religiösen Menschen – alle vereint in dem leidenschaftlichen Wunsch nach einer menschlichen Welt.

16. Und so kann es kommen, dass während uns die düsteren Prognosen über den rapide Schwund der Volkskirche ins Grübeln versetzen, wächst wo anders unaufhaltsam die Gemeinde deren, die sich zu Jesus und zu seinem Gott vielleicht nicht mit Lippen, wohl aber mit Taten bekennen und so die Nachfolge Christi mit ihrer ganzen Existenz realisieren.

17. Vielleicht müssen wir den von unserem Predigttext verkündeten Neuanfang so radikal denken. Und uns ernsthaft die Frage stellen, ob wir zu diesem neuen Volk Gottes gehören möchten, ob wir dem Hirten Jesus Christus folgen wollen – auf neuen Wegen und mit unserem ganzen Leben. AMEN

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