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Geht die Reformation weiter?

Ballast und Bewahrenswertes Evangelischer Theologie.

(Vortrag vor dem Evangelischen Forum)

Sehr geehrte Damen und Herren,

ich beginne gleich mit einer Frage, die sich vielleicht einige von Ihnen auch immer wieder stellen: Was würde der Welt bzw. der Gesellschaft fehlen, wenn es uns, die Evangelische Kirche nicht geben würde? Und: Würde der Gesellschaft bei unserer Abwesenheit überhaupt etwas fehlen? Diese Frage meldet sich bei mir immer dann zum Wort, wenn ich wieder, zum unzähligen Mal einen Gottesdienst erlebe, dessen nichts sagende Gefühlsduselei, inhaltsfreies Pathos oder ja, nicht selten auch die selbstherrliche Arroganz eines äußerst schlecht vorbereiteten Predigers, Predigerin meinen Blutdruck hochtreibt. Dann sage ich mir: Diese Kirche hat es wahrlich nicht anders verdient, als unterzugehen. Die Frage nach der Brauchbarkeit der Evangelischen Kirche meldet sich auch, wenn ich mir so manchen Gemeindebrief durchlese. Weit und breit keine Spur von einem theologischen Kreis, also von einem Angebot, der auf die Glaubensfragen der Gläubigen mit einem kompetenten, fundierten Angebot eingehen würde. Ja, die obligatorischen Bibelkreise, deren schläfrige Atmosphäre kaum als Arbeit an Glaubensfragen bezeichnet werden kann. Dafür jede Menge Strick-, Häckel-, Kegel-, Gymnastik- oder Yogagruppen, ungeachtet der obligatorischen SeniorInnenkreise, die sich – und glauben Sie mir, ich weiß wovon ich rede – meist im Kuchen-Essen und Urlaubsfotos-Anschauen erschöpfen. Auch die Kirchenmusik, meist das einzige, was noch vorzeigbar ist, können die echten Profis besser als unsere Chöre, Singkreise, und sicher auch mindestens so gut, wie unsere freilich sehr gut ausgebildeten KirchenmusikerInnen. Die Frage nach der gesellschaftlichen Bedeutsamkeit und Brauchbarkeit der Evangelischen Kirche meldet sich bei mir, einer promovierten Theologin und Religionslehrerin, wenn ich an den Religionsunterricht denke. Die Erfahrungen der SchülerInnen in Hinblick auf den RU bestehen im Allgemeinen im Kekse-Essen und Filme-Schauen, ihr religiöses Wissen sowie ihre religiöse Kompetenz tendieren in der Regel gegen Null. Das wird seitens der Kirchenleitung auch noch stillschweigen akzeptiert, solange die Zahlen stimmen. Und schließlich gipfelt meine Fragerei in Verzweiflung, wenn ich dann in einem öffentlichen Forum eine oder einen der hohen AmtsträgerInnen nach den Ursachen dieser Misere frage, und als Antwort normalerweise unwillige Unverständnis und demagogische, realitätsferne Beteuerung des Gegenteils ernte.


Sicherlich gibt es auch Lichtblicke. Dann erstrahle ich vor Stolz über die Institution, zu der ich gehöre. Zum Beispiel, wenn ich Folgendes lese:

„Aber dürfen wir nicht doch ein bisschen stolz sein auf die Emanzipationsgeschichte, die wir Protestanten mit unserer Kirche hingelegt haben? Frauen können Bischöfinnen werden und bei richtiger Promillezahl auch EKD-Chefin bleiben. […] Gleichgeschlechtlich Liebende dürfen mit ihren Partnern in Pfarrhäusern wohnen. Und: Der Protestantismus hat sich nicht nur mit der Demokratie arrangiert, sondern tritt nunmehr als ihr Liebhaber und Promoter auf. Freiheit ist das Fahnenwort des modernen Protestantismus: Ein emanzipierter Protestant benötigt keinen Vorbeter, keinen Papst, keinen Guru, keine Institution, die ihm vorschreibt, wie zu glauben ist. Das macht uns so leicht keiner nach.“1


Auch deswegen betone ich immer, wenn ich gefragt werde: Ich bin aus voller Überzeugung evangelisch. Das Evangelische Christentum ist für mich stets und immer noch und trotz allem „die beste aller möglichen Welten“. Nur: Warum erschöpft sich seine gesellschaftlich-kulturelle Bedeutsamkeit meistens in nichts sagenden oder sogar ärgerlichen Manifestationen? Warum sind wir nicht imstande, das Wertvolle unserer geistigen Heimat zu demonstrieren? Warum brennen wir nicht leidenschaftlich dafür, was der evangelische Glaube für diese unsere Welt bedeuten könnte? Und warum habe ich den Eindruck, dass es die wenigsten aus den Reihen der Verantwortlichen wirklich interessiert? Nun, Sie, meine Damen und Herren, sind hier, weil Sie offenbar zu den wertvollen, kostbaren Ausnahmen gehören, denen die Zukunft unserer Kirche wirklich am Herzen liegt. Und die wohl auch die Frage umtreibt, ob diese unsere Kirche auch wirklich zukunftsfähig ist.


Ich möchte zunächst diejenigen Merkmale andenken und bedenken, welche für die Zukunftsfähigkeit des Evangelischen Christentums sprechen, also diejenigen Wesenszüge des christlichen Glaubens aufzeichnen, welche unsere evangelische Identität ausmachen, d.h. welche uns in den Augen der Welt eigentlich unverwechselbar machen müssten.

Betrachten Sie das, was ich Ihnen hier erzähle, bitte, als eine theologische Stimme und Perspektive, die keinen Absolutheitsanspruch mitführt, sondern viel mehr anregen, inspirieren, zu denken geben und ein Gespräch anregen möchte.


Nun zu dem Bewahrenswerten des Evangelischen Christentums.

Alles begann mit der Entscheidung eines Theologieprofessors am Jahre 1517. Der sogenannte Thesenanschlag von Wittenberg als solcher war – im Spiegel der damaligen Zeit betrachtet – viel weniger revolutionär als es uns heute erscheint. „Als Doktor der Theologie hatte er (M. Luther, K. K.) die Befugnis und die Pflicht, über alle Fragen, die durch kirchliche Lehrentscheidungen noch nicht festgesetzt waren, wissenschaftlich zu disputieren“.2

Luther hat also zunächst vor allem seine akademische Pflicht wahrgenommen. Damit hat er jedoch zugleich die kritische Funktion der theologischen Wissenschaft gegenüber der Kirche herausgestellt sowie das Recht und die Pflicht der Theologie, bei Bedarf einen kritischen Diskurs in Glaubensfragen zu initiieren.

Damit wurde der Dialog einmal mehr zum Suchmittel der Wahrheit promoviert, und das gebildete kritische Denken zum unabdingbaren Begleiter der gläubigen evangelischen Existenz. Verstärkt wurde diese zentrale Rolle der Bildung durch die sogenannte reformatorische Entdeckung Luthers, laut der der einzelne Mensch allein aus Glauben gerechtfertigt, d.h. von Gott bejaht wird. Das Befreiende dieser Entdeckung ist: Meine Geltung erfahre ich von Gott ohne Rücksicht auf jegliche Zwischeninstanzen und ohne sekundären Leistungsdruck. M.a.W., Gott will mich, so wie ich bin. Das Verpflichtende und weniger Angenehme der reformatorischen Entdeckung: Ab jetzt kann kein Anderer für mich vor Gott einstehen. Ich bin für mich selbst verantwortlich, und es gibt keine Instanz, die mich in meiner Entscheidung entlasten könnte.


Diese unbequeme Konsequenz der reformatorischen Entdeckung heißt Mündigkeit. Die evangelische Christin, der evangelische Christ hat in diesem Sinne mündig zu sein, d.h. selbstverantwortlich in seinen existentiellen Glaubensentscheidungen. Eine solche religiöse und denkerische Mündigkeit ist ohne Bildung, d.h. ohne Auseinandersetzung mit der eigenen Glaubenstradition und mit anderen Anschauungen schlicht nicht denkbar.

Eine solche Haltung wird auch nicht erschüttert, wenn in der Zeit der Aufklärung mit dem Aufkommen der kritischen Wissenschaften das bis dahin angenommene biblische Weltbild ins Wanken gerät. Die Evangelische Theologie besinnt sich – freilich nicht ohne innere Kämpfe – auf ihre reformatorische Verpflichtung, aus dem Glauben heraus und in Verantwortung vor Gott den Dialog zu wagen. Das ist die Verantwortung des Protestantismus, die - mit Worten von Gerhard Ebeling gesagt - „der Protestantismus in voller Schwere zu tragen hat. Denn sie (die evang. Kirche und Theologie) besitzt keine kirchliche traditio neben der Schrift zur Entlastung von den Problemen, die die Schriftauslegung stellt. Und sie hat über sich kein unfehlbares Lehramt, sondern steht in der Freiheit, ihre Arbeit selbst verantworten zu müssen, gebunden allein an die Schrift.“3

Insofern ist der protestantische Weg derjenige der Anfechtungen und Ungesichertheit. Wir müssen – so Ebeling – „Ja sagen zu […] den Anfechtungen, der Ungesichertheit, […] voranzugehen in der kritischen Überprüfung der Grundlagen, brennen zu lassen, was brennt, und vorbehaltlos zu warten, was sich als unverbrennbar, als echt, als wahr erweist“.4 Laut Ebeling habe sich der Protestantismus mit der prinzipiellen Entscheidung für die historisch-kritische Methode für einen „gefahrvollen Weg“ entschieden. – „Und er hat sich damit recht entschieden.“5


Ähnlich radikal formuliert Dorothee Sölle:

„Wer Theologie treibt, muß mindestens mit der Möglichkeit rechnen, dass der Glaube ein Irrtum sei. Denn Theologie ist Selbstverständigung des Glaubens, die ihre Bilanz nicht vorweg kennt. Sie steht quer zur traditional erworbenen Frömmigkeit – und es ist eine Eigentümlichkeit christlichen Glaubens, daß er seit der Aufklärung ohne solche kritische Reflexion nicht mehr gelebt werden kann. Zweifel, Preisgabe der eigenen Position, die Fähigkeit, sich zu wandeln, gehören zu ihm, wo immer er lebendig ist.“6

Wenn man von so was wie einem „protestantischen Prinzip“ sprechen sollte, dann wäre es wohl diese mündige Radikalität des Denkens vor Gott und im Namen Gottes, dank deren es die evangelische Theologie mit allen geschichtlichen Herausforderungen aufnehmen kann und soll.

So setzt sie sich in der Zeit der Aufklärung mit dem radikal veränderten Weltbild auseinander und verabschiedet sich nach und nach von jeglichen historischen, biologistischen, kosmologischen sowie psychologischen und moralischen Begründungen des Glaubens.

Ab jetzt ist es kein Wahrheitsbeweis des christlichen Glaubens, wenn man sagt, „so steht es geschrieben“. Auch nicht, wenn man sich auf vermeintliche historische Tatsachen beruft. Auch der Hinweis auf den so sinnvoll geordneten Kosmos, oder die so intelligent strukturierte Natur beweist nicht automatisch die Existenz Gottes. Selbst die religiöse Begabung des Menschen ist nicht zwingend als Gottesbeweis zu werten. Und dass Ethik und Moral auch ohne Gott auskommen, wird auch relativ schnell denkbar.

Die Theologie reagiert nicht nur auf diese neue Situation, sondern ruft sie nicht selten selbst herbei. Es wird die so genannte historisch-kritische Methode entwickelt, mit deren Hilfe jetzt die biblischen Texte neu gelesen werden. Sie werden nicht mehr als ewige Wahrheit behandelt, sondern als das, was sie faktisch sind: als historische Glaubenszeugnisse und zeitbedingte Interpretationen ohne objektive Beweiskraft. Von nun an gilt es, ihre Wahrhaftigkeit wo anders zu verorten als in ihrem vermeintlich faktischen Gehalt, da dieser dem historischen, biologischen u.a. Wissen der neuen Zeit nicht mehr Stand hält.


Der Marburger Professor Rudolf Bultmann nimmt die historisch-kritische Methode ernst und startet das sogenannte Entmythologisierungsprogramm. Laut diesem werden alle falschen Sicherungen als Mythen entlarvt, damit sich umso mehr und deutlicher das zeigt, was an der Wahrheit der christlichen Botschaft wirklich Bestand hat. Die Anstößigkeit der mythisch-magischen Vorstellungen der antiken Welt weicht dem eigentlichen Anstoß, dem Gedanken der Menschwerdung Gottes. Auch wird die Wahrheit des Glaubens nicht mehr historisch, biologisch usw. bemessen, sondern als eine existentiale Wahrheit herausgestellt. Nicht die messbare und objektivierbare Faktizität, sondern die existentiale Tragfähigkeit der biblischen Botschaft wird zum Kriterium der Wahrhaftigkeit des christlichen Glaubens. Wahr ist nicht das, was sich objektiv empirisch beweisen lässt, sondern das, was mich in meinem Leben und Sterben trägt. Und das ist nicht nur subjektiv, sondern als solches – so Bultmann – allen Menschen aller Zeiten prinzipiell gemeinsam.


Es waren u.a. die SchülerInnen von R. Bultmann, welche auf dessen Gedanken kritisch angeknüpft und seinen Weg fortgesetzt haben. Die Theologie setzt einmal mehr auf die Kraft des Wortes, der Sprache, auf die Tragfähigkeit der christlichen Interpretation. Denn wenn es nun – mit F. Nietzsche gesagt – keine Fakten, sondern nur Interpretation gibt, so gilt es ernsthaft zu fragen, welcher Interpretation ist zu trauen und zu folgen, damit das menschliche Leben gelingt. Kann die christliche Interpretation eine solche Tragfähigkeit aufweisen? Und worin besteht diese? Eine detailierte Antwort zu referieren, würde unseren Zeitrahmen hoffnungslos sprengen. Aber wenigstens grob gesagt: In und durch Jesus Christus wird uns eine bestimmte Deutung der Welt vermittelt, die – so glauben wir – der Perspektive Gottes entspricht. Das Vertrauen auf diese Deutung macht das Leben zu einem erfüllten und die Welt zu einer menschlichen.


Da meine heutige Aufgabe nicht in einer dogmengeschichtlichen Vertiefung, sondern im Nachspüren dem Wesen des Protestantismus besteht, werde ich jetzt nicht die Ergebnisse dieses neuen hermeneutischen Denkansatzes der evangelischen Theologie vertiefen, sondern einmal mehr darauf hinweisen, dass sich in dieser Art des Umgangs mit den je aktuellen Herausforderungen das reformatorische Erbe des Protestantismus stets durchhält: Das redliche Sich-Stellen der jeweiligen Problemstellung, die radikale Reflexion der jeweiligen Frage, die denkerische Konsequenz ungeachtet der ideologischen Vorbehalte. Dank dieser Tugend des redlichen Denkens aus Gründen des Glaubens blieb die evangelische Theologie stets auf der Höhe der Zeit und konnte mit dem je aktuellen denkerischen Strömungen stets Schritt halten.


Die neueste Herausforderung, welcher sich die evangelische Theologie zu stellen hat und zögerlich auch schon langsam stellt, ist der radikale – zunächst philosophische – Abschied von der Vorstellung einer objektiven, von unserer Subjektivität unberührten Wirklichkeit. Nach dem Abschied von Faktizität zugunsten der Interpretation kommt es nun zum Abschied von der objektiven Wirklichkeit. Dieser Denkbewegung wird auch die Bezeichnung „postmetaphysisch“ verliehen. Es handelt sich um einen endgültigen Abschied von der Vorstellung einer Wirklichkeit „an sich“. Es ist vor allem die Philosophie des so genannten Radikalen Konstruktivismus, welche diesem Gedanken stringent nachgeht. Jegliche Wirklichkeit ist ein Produkt unserer Sicht- und Denkweise und daher ein Konstrukt des Menschen. Eine Wirklichkeit „an sich“ gibt es – für den Menschen – nicht.

Für die Theologie bedeutet dies ein weiteres radikales Umdenken. Wenn alles ein Konstrukt des Menschen ist, dann sind auch Gott und seine Offenbarung ebenfalls ein Produkt des Menschen. Der altbekannte Projektionsvorwurf der klassischen Religionskritik kehrt zurück mit viel größerer Durchschlagkraft. Ist hier noch etwas von der Wirklichkeit des Glaubens zu retten? – Auch in diesem Fall ist der Evangelischen Theologie zu Gute zu halten, dass sie zumindest punktuell nicht die Augen vor dem anstehenden Problem verschließt. Die denkerische Arbeit an diesem neuen Problem wird nicht minder gewissenhaft aufgenommen, was zunächst in Hinblick auf unser heutiges Thema bedeutet, es wird erneut auf das reformatorische Erbe des Protestantismus zurückgegriffen, auf seine tragende Kraft gesetzt und mit diesem „Gepäck“ auf dem Rücken wird das Wagnis der neuen Auseinandersetzung vollzogen.


Literaturhinweise:

- Klein, Andreas [2011]: Konstruktivistische Diskurse und ihre philosophische und theologische Relevanz, in: Ders. / Körtner, Ulrich H. J. (Hg.): Die Wirklichkeit als Interpretationskonstrukt? Herausforderungen konstruktivistischer Ansätze für die Theologie, Neukirchen-Vluyn 2011.

-Klein, Andreas / Körtner, Ulrich H. J. (Hg.) [2011]: Die Wirklichkeit als Interpretationskonstrukt? Herausforderungen konstruktivistischer Ansätze für die Theologie, Neukirchen-Vluyn 2011.

- Körtner, Ulrich H. J. [1990]: Theologie in dürftiger Zeit. Ein Essay, München 1990.

- hartmut von sass, Gott als Ereignis des Seins. Tübingen 2013.

-Kristinová, katarína, Die verbotene Wirklichkeit. Untersuchungen zu der wirklichkeitskonstitutiven Relevanz des christlichen Offenbarungsbegriffs, Tübingen voraussichtlich Juni 2018.


Angesichts dieser niveauvollen reflexiven Leistung der evangelischen Theologie stellt sich aber folgendes Problem: Warum besteht zwischen der akademischen Theologie an den Universitäten und der gelebten Theologie in der Kirche so eine große Diskrepanz? Warum erfährt man in der Predigt oder in den Gemeindekreisen so wenig bzw. gar nichts darüber, welches hohe reflexive Niveau der evangelische Glaube inzwischen ereichte?

Das ist das evangelische Dilemma: Dort ein hohes reflexives Niveau, ein denkerischer Mut, eine leidenschaftliche Wahrheitssuche, hier eine um sich greifende vielfältig beklagte Infantilisierung des Publikums, Banalisierung der Inhalte, Flucht in die Seichtheit der Performance und in die Äußerlichkeiten. Der Münchener Theologe Friedrich Wilhelm Graf hält gerade „die schlechte Qualität religiöser Dienstleistungen, etwa den Verfall der Predigtkultur oder die mangelnde theologische Bildung vieler Pfarrer und Pfarrerinnen“ für die Ursachen, „die die Abkehr von der Kirche als Organisation beschleunigen“.7

Es sind gerade die Gebildeten und Aktiveren, welche abwandern, weil ihnen die Kirche „intellektuell und religiös nichts mehr zu bieten hat.“8 Diese inhaltliche, geistige und geistliche Armut und Sprachlosigkeit ist selbst durch die fantasievollsten Äußerlichkeiten nicht zu retten. Diejenigen nämlich, welche ernsthafte existentielle Fragen haben und auf der Sinnsuche sind, lassen sich nicht mit oberflächlichen Ritualen, seichten Events, aber auch nicht mit blutleeren dogmatischen Richtigkeiten oder platten Kalendersprüchen abspeisen. An solchen Menschen verschuldigt sich die Kirche im besonderen Maße.


So bleibt meine Frage, die Sie gerne als den ersten Beitrag zu unserer Diskussion betrachten können: Wie kommt es zu dieser unheilvollen Parallelexistenz von Universität und Kirche und zu dieser Kluft, welche zwischen den hohen akademischen Ansprüchen an die zukünftigen PfarrerInnen und der mehr als ernüchternden Realität ihrer praktischen Amtsvollzugs besteht? Warum entspricht der hohen Qualität der Ausbildung nicht eine ebenso hohe Qualität der religiösen Dienstleistungen und Sinnangebote? Oder in Hinblick auf das Thema dieses Vortrags formuliert: Warum schafft es die tragende Kraft unseres reformatorischen Erbes nicht über die Toren der Universitäten hinein in die Welt, in die menschliche Alltagsrealität? Und da es zu einem Impulsreferat gut passt, schließe ich auch mit eben dieser Frage, bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit und wünsche uns eine spannende, inspirierende Diskussion. Vielen Dank.

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