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Der "unsichtbare" Gott

1. Neue Sprache braucht das Land

Für viele Menschen, selbst für Christinnen und Christen, sind traditionelle Gottesvorstellungen fraglich oder sinnlos geworden. Das Wort „Gott“ scheint zu einer leeren Chiffre zu verkommen, die man entweder verlegen meidet oder als kindliches Wunschdenken entlarvt.

Vorbei sind die Zeiten, in denen Gott die erste und die letzte Bezugsgröße in existentiellen Höhepunkten, Nöten, Konflikten oder Fragen darstellte. Und vorbei sind auch die Zeiten, in denen er wenigstens einer kämpferischen Aufleh​nung, eines rebellischen Widerstandes wert war. Heute, so der überwiegende Eindruck, scheint er nicht einmal der Rede wert, da weder von Interesse noch von Relevanz zu sein. Der verschwindend geringe Sprachraum, in welchem die Rede von Gott geschieht, zeugt davon, wie wenig der moderne Mensch mit ihm noch anfangen kann. Gott ist entbehrlich geworden. Die Erfahrung der existentiellen Unentbehrlichkeit wird problemlos ohne ihn gemacht. Gott wurde laut oder stillschweigend für belanglos erklärt. Und als solcher ist er unsichtbar geworden.

Denn: Was wir als belanglos darstellen, das müssen wir nicht ernst nehmen, dem können wir uns entziehen und unsere Aufmerksamkeit verweigern. Das wird irgendwann weder der Rede noch des Blickes wert und verschwindet aus unserem Horizont.

Die Unsichtbarkeit Gottes aufgrund dessen gefühlten und propagierten Belanglosigkeit ist in vielerlei Hinsicht hausgemacht. Wir sind es, die in Verantwortung stehen, von Gott so zu reden, dass seine Göttlichkeit und Relevanz deutlich werden und eine Anziehungskraft auf die HörerInnen entwickeln. Unsere Rede soll „etwas durchscheinen lassen [...] von etwas ungleich Größerem“.1 Stattdessen präsentiert unsere Verkündigung vielerorts ein Gottesbild, das trivial und befremdlich daher kommt, und eher einer Karikatur Gottes gleicht, die mit Recht nicht ernst genommen wird. Und so verabschiedet man sich „von Gott, wie man sich ein paar Jahre vorher vom Osterhasen und vom Weihnachtsmann verabschiedet hat.“2

Der evangelische Theologe Gerhard Ebeling spricht schon im Jahr 1971 von einem „Überdruss an der Sprache“ des Christentums, die sich nicht mehr mit dem geistigen Leben der Menschen deckt und deswegen in ihren Ohren zu leeren Phrasen verkommt, ohne dass es die meisten Predigerinnen und Prediger mitbekommen würden.3

Dabei bestand die Aufgabe der Kirche schon immer darin, das lebendige und lebendig machende Wort zu sprechen, zu predigen. Also so zu reden, dass die ZuhörerInnen sich selbst und ihre Lebenswirklichkeit mit Hilfe dieses Wortes besser verstehen als vorher. Dass sie sagen können: Das habe ich schon immer so geahnt oder gespürt, aber erst jetzt, wo es mir so gesagt wurde, sehe ich die Sache ganz klar. Diese Art von existentieller Sprachhilfe leistet die Kirche schon lange nicht mehr.

Ja, mehr noch: Es scheint so zu sein, das die PredigerInnen selbst nichts mehr mit der überlieferten Sprache des Glaubens anzufangen wissen. Denn wüssten sie es, so würden sie die traditionellen Begriffe und Gedanken in ihrer eigenen, verständlichen Sprache authentisch und überzeugend vermitteln können. Das ist aber bei den meisten schon lange nicht der Fall.

Deswegen ist die Frage „Wie neu von Gott reden?“ logisch betrachtet erst der zweite Schritt. Denn bevor wir zu den Anderen von Gott reden, müssen wir selbst wissen, welchen Gott wir da genau glauben und warum. Ja, wir müssen lernen, von Gott neu zu denken, bevor wir ihn dann verkünden. Zu diesem neuen Denken zwingt uns das neue veränderte Denken unserer Zeit, deren Kinder auch wir sind. Und so stellt sich die Frage: Können wir zugleich Kinder Gottes und Kinder unserer Zeit sein, ohne in eine geistige und intellektuelle Schizophrenie zu verfallen?

Die Dringlichkeit der Suche nach einem zeitgemäßen Gottesbild und einer entsprechenden Sprache ist religionsgeschichtlich betrachtet kein Novum. Jede neue Epoche in der Geschichte des Glaubens, jede neue Begegnung mit einer anderen Kultur, jede religiöse Neukontextualisierung gestaltete sich immer auch und vor allem als eine Sprachsuche – ausgelöst durch das empfundene Unvermögen, sich gegenüber einer fremden Denk- und Sichtweise verständlich und überzeugend zu artikulieren. So stellten beispielsweise die Gleichnisse Jesu, die philosophische Ausdrucksweise der Apologeten, die Sprachschöpfungen Martin Luthers oder der existenzielle Duktus der dialektischen Theologie solche Mittel und zugleich Ergebnisse einer semantischen Gottessuche dar, eines Ringens um die gefährdete und zu rettende Göttlichkeit Gottes. Jede Epoche hatte ihr eigenes Gottesverständnis. Und was ist mit uns?

Es scheint längst an der Zeit – und unzählige theologische wie außertheologische Stimmen legen es uns nahe –, sich angesichts der sich verändernden Welt wieder einmal auf eine neue Suche nach der Göttlichkeit Gottes zu begeben, neue Abschiede und neue Festlegungen zu wagen, um Gott in seiner Relevanz nicht dem Verstummen bzw. dem Missbrauch zu überlassen.

2. Kennen Sie schon das Alte?

Doch bevor wir dies tun, müssen wir noch einen Schritt zurück. Warum? Das erklärt Ihnen folgende überlieferte Anekdote:

Der Kronprinz von Preußen und spätere Kaiser Wilhelm I. fragte einmal den damals schon berühmten Astronomen und Sternenhimmel-Vermesser Friedrich Wilhelm August Argelander in festlicher Runde: „Nun, mein lieber Argelander, was gibt es Neues am gestirnten Himmel?“ Argelander, nicht mundfaul, antwortete: „Kennen denn Königliche Hoheit schon das Alte?“ Normaler­weise standen damals auf solch eine Impertinenz mindestens vier Wochen verschärfter Arrest. Der nachmalige Kaiser aber lächelte nur verlegen.4

Denn, recht hatte der scharfsinnige Astronom: Man kann ein Neues als Neues nicht wahrnehmen und schätzen, wenn man nicht um das Alte weiß, von dem sich dieses Neue abhebt.

Ich möchte Ihnen in einer sträflichen Grobheit und Kürze einige Epochen und deren prominente Gottesbilder in Erinnerung rufen. Es handelt sich um diejenigen Gottesbilder, welche mich stark angesprochen haben und meine theologische Entwicklung bis heute prägen. Ich zähle sie nicht in chronologischer Reihenfolge auf, sondern nach der persönlichen Wertigkeit.

Am Anfang meiner theologischen Biographie steht Luthers berühmte Gottesdefinition, laut Gott das sei, woran der Mensch sein Herz hängt.5 Auch der unvergessliche Satz des Augustinus gehört zu meinem theologischen Wortschatz: „Geschaffen hast DU uns auf Dich hin, o Herr, und unruhig ist unser Herz, bis es Ruhe findet in Dir.“6 Gott als das Woher der transzendentalen, existentiellen Unruhe; und diese heilsame Unruhe in uns, welche auf Gott verweist. Der große Theologe des Mittelalters, Anselm von Canterbury, bezeichnet Gott als das, worüber hinaus nichts Größeres gedacht werden kann.7 Ich halte diesen Gedanken für brillant. Paul Tillich übersetzt das zu seiner Zeit problematische Wort „Gott“ als das, was uns unbedingt angeht.8 Der große Theologe des 20. Jahrhunderts, Karl Barth, verteidigt die Unverfügbarkeit Gottes und spricht von Gott als dem ganz anderen, dem Nein zu unserem Ja, und dem Ja zu unserem Nein.9 Rudolf Bultmann beschreibt Gott als „die Alles bestimmende Wirklichkeit“.10 Eberhard Jüngel spricht von Gott als dem Geheimnis der Welt.11 Friedrich Schleiermacher, der größte Theologe des 19. Jahrhunderts, sucht auch nach einer neuen Sprache für Gott und spricht von Gott als dem Woher unserer schlechthinnigen Abhängigkeit.12 Die Prozesstheologie des 20. Jahrhunderts gibt zu denken mit ihrem Votum, Gott sei nicht der Schöpfer, sondern der Poet der Welt.13 Schon der als Ketzer verkannte Theologe des 1. Jahrhunderts Marcion behauptet, Gott sei nicht der Schöpfer der Welt.14 Und David Hume (18. Jahrhundert) stellt die Behauptung, Gott sei als der unbewegte Beweger der Schöpfer der Welt, in Frage.15 Rudolf Bultmann und Dietrich Bonhoeffer betonen die Nicht-Gegenständlichkeit Gottes. Vielleicht kennen Sie Bonhoeffers Aussage: „Einen Gott, den 'es gibt', gibt es nicht“.16 Dorothee Sölle sticht hervor als eine radikale und äußerst inspirierende theologische Denkerin. Sie verpflichtet die TheologInnen zu einem radikal redlichen Denken: „Wer Theologie treibt, muss mindestens mit der Möglichkeit rechnen, dass der Glaube ein Irrtum sei.“17 Sie betreibt eine konsequente Kreuzestheologie. Gott ist nicht mehr im Himmel zu suchen, sondern in jedem und jeder Leidenden zu finden. Besonders hervorzuheben ist ihre Kritik des patriarchalen Gottesbildes und ihr Plädoyer für einen ganzheitlich menschlichen Gott, der verletzlich, leidend, zärtlich und auch hilfsbedürftig ist. Sölle wie Bonhoeffer bringen ein Gottesbild, das zu einem mündigen Menschen passt. Der katholische Theologe Johann Baptist Metz wiederum beeindruckte mich u.a. mit seinem Gedanken eines Gottes, der den Lauf der Welt immer wieder unterbricht.18

Auch einige philosophische Meilensteine sind nun zu erwähnen, denn auch diese säumen meinen theologischen Werdegang. Von Immanuel Kant stammt der Gedanke, hinter den wir nicht mehr zurück können: Die Existenz Gottes kann weder bewiesen noch widerlegt werden.19 Auch der berühmte Text Friedrich Nietzsches „Der tolle Mensch“, prägt mich bis heute: Gott ist tot - „Wir haben ihn getötet“. „Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Gibt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts? Haucht uns nicht der leere Raum an? Ist es nicht kälter geworden? Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht?“20 Max Weber diagnostiziert für die Zeit nach dem so genannten Tod Gottes: „Die alten vielen Götter, entzaubert und daher in Gestalt unpersönlicher Mächte, entsteigen ihren Gräbern, streben nach Gewalt über unser Leben und beginnen untereinander wieder ihren ewigen Kampf.“21 Und Michel Foucault prophezeit, dass der Mensch den getöteten Gott nicht überleben wird.22

3. Neue Denk-Impulse

Jetzt seien einige Gedanken und Impulse erwähnt, mit denen ich gerade ringe. Repräsentativ für etliche anderen ist hier der katholische Theologe Gotthold Hasenhüttl, der ein personales Gottesbild verabschiedet und Gott als ein Geschehen der Liebe qualifiziert.23 Er steht für eine ganze Linie der so genannten posttheistischen Theologie, die Gott kein An-sich-Sein zuschreibt, Gott also nicht als eine feststehende Größe definiert, sondern als ein Ereignis, Vollzug bzw. Prozess beschreibt. Gott ist weder Subjekt noch Objekt, sondern das, was zwischen Subjekt und Objekt geschieht. Gott ist nur, wenn und insofern er sich ereignet.24 Aber: Wo ist Gott, wenn er sich nicht ereignet? Oder besser noch: Ist Gott, wenn er sich nicht ereignet? Wo ist der Wind, wenn er nicht weht? Wo ist die Liebe, wenn sie nicht waltet? Und: Kann man zu einem Prozess beten? Eine Beziehung aufbauen?

Doch bleibt der Gedanke der Prozesshaftigkeit Gottes sehr bestechend. Gott als ein Kraftfeld (Pannenberg), Gott als Spiel bzw. Sprachspiel. Hier klingt der alte Gedanke der Herrschaft Gottes an: Gott als eine Wirklichkeit bzw. Sphäre, in der wir uns bewegen. Gott als Spiel, das, indem wir mitspielen, vielmehr uns bespielt.

Gott als Ereignis steht somit gewissermaßen zwischen Sein und Nichtsein. Oder über der Dualität von Sein und Nichtsein. Die Theologie entfernt sich hiermit von der Betonung der Wirklichkeit hin zu der Betonung von Möglichkeit, vom statischen Sein zum dynamischen Werden. Gott transformiert von einem statischen zu einem dynamischen Phänomen: „Er“ wird zu einem Gott, der weder ist, noch nicht ist, sondern der wird, bzw. sein kann.

Zu denken geben mir auch die kritischen Anfragen seitens der skeptischen Philosophie. Z. B. ob Gott nicht eine Art nützliche Fiktion sei, die zwar funktional notwendig ist, und dennoch nichts weiter als eine Fiktion bleibt. Dies können wir uns vorstellen am Beispiel des Geldes. Das Geld, das sind an sich wertlose Stücke Papier oder Metall, aber solange wir an sie glauben, regieren sie die Welt. Ein anderes Beispiel wäre die Menschenwürde: Sie ist an sich nicht vorfindlich. Sie ist eine Konstruktion, die wir absolut und unbedingt setzen, weil sie für eine menschliche Welt unaufgebbar ist. Vielleicht müssen wir Gott genauso postulieren, damit die Welt eine menschliche Welt bleibt.

Die nächste Baustelle meines Nachdenkens ist die naturtheologische Auffassung von einer Gottesbegabung des Menschen. Wir seien auf Gott hin konstruiert. Irgendwo tief in uns, manchmal bis zur Unkenntlichkeit korrumpiert oder verschüttet, ist die Stelle, an die Gott andocken kann. Gehört eine Art Gottesbegabung zu der Grundausstattung des Menschen, kann sie also irgendwo leise schlummern, oder gehört sie doch nicht grundsätzlich zum Menschsein und kann somit gänzlich verloren gehen? Das ist die alte Frage, welche auch mich umtreibt.

4. Mein Ansatz: Der „unsichtbare“ Gott

Am 8. August 2021, einem Sonntagvormittag, strahlte der Sender 3Sat unter dem Titel „Stars on street“ ein Kultur-Experiment aus, welches in den Straßen Wiens mit versteckter Kamera gefilmt wurde. Was passiert, wenn sich international renommierte Künstlerinnen und Künstler auf sich allein gestellt auf der Straße dem Publikum präsentieren? Aleksey Igudesman, Ildikó Raimondi, Martin Grubinger, Natalia Ushakova und Herbert Lippert werden mit der Kamera bei dem Versuch begleitet, sich als StraßenkünstlerInnen in Szene zu setzen.25

Die genannten Weltklasse-MusikerInnen sind in ihrem normalen Leben in geschützten Räumen der weltberühmten Opernhäuser zu Hause. Dort treten Sie auf vor einem erlauchten Publikum, um dessen Aufmerksamkeit sie nicht (mehr) kämpfen müssen. Wie werden aber die zufälligen PassantInnen auf sie und ihre Kunst reagieren?

Sie schlagen sich tapfer. Man sieht es ihnen an, wie sehr sie sich anstrengen, wie sehr sie hinter ihrem professionellen Lächeln kämpfen müssen. Die Mehrheit der Passantinnen und Passanten eilt oder schlendert an ihnen vorbei, die meisten folgen ihren alltäglichen Beschäftigungen, unterhalten sich, schlecken an ihrem Eis und werfen meistens nur beiläufige Blicke auf die jeweilige Künstlerin, den jeweiligen Künstler. „Es ist so schwer“ - stöhnt die Sopranistin Ildikó Raimondi in einem ruhigen Moment in die Kamera.

Es gibt selbstverständlich einige PassantInnen, die für länger oder kurz stehen bleiben und zuhören. Ihre Reaktionen reichen von Begeisterung über Anerkennung bis hin zu Unsicherheit. Manche nehmen offenkundig teil an einem Spektakel, andere scheinen zu ahnen, dass es sich gerade wohl um etwas Besonderes handelt. Der Star bleibt weithin unerkannt, die Ausnahmeerscheinung in ihrer unermesslichen Qualität ungewürdigt.

Plötzlich geschieht eine Ausnahme. Da steht eine Frau, die, aus der U-Bahn kommend, die Stimme der Weltklasse-Sopranistin Natalia Ushakova vernimmt und jetzt auch noch ihren Augen nicht traut. Ihr Gesicht spiegelt eine Mischung aus unverfälschter Verblüffung, Faszination und Seligkeit. Nur sie merkt, welche Kraft von diesem Geschehen da ausgeht. Ich denke, ich träume – sagt sie sinngemäß. Die Natalia Ushakova singt hier, auf der Straße, und keiner kriegt es mit! Es sei ein verdammt harter Job – stimmen die TeilnehmerInnen des Straßenexperiments mit ihr überein. Das Schlimmste dabei sei, so unsichtbar zu sein.

Diese Situation wird für mich und mein theologisches Nachdenken über Gott paradigmatisch. Ein Ereignis, welches nicht wahrgenommen wird, ist „wie ein nicht abgeholtes Geschenk“26. Es ist da und ist doch nicht. Mit dem biblischen Jesus gesagt: Es ist da für diejenigen, welche Augen haben und sehen und Ohren haben und hören. Für die anderen handelt es sich lediglich um ein Straßenspektakel. Der Augenblick des Göttlichen zieht an ihnen, oder besser sie ziehen an diesem Augenblick vorbei.

So bleibt die Offenbarung in Ermangelung der Informiertheit sowie der sich aus dieser ergebenden Wahrnehmungsfähigkeit aus. Das ins theologische Denken zu übertragen, bedeutet: Wenn sich Gott dem Menschen mitteilen, offenbaren möchte, bedarf „er“ einer entsprechenden Informiertheit, eines Vorverständnisses seitens der EmpfängerInnen. Schon Paul Tillich stellte fest, dass Gott in seiner Offenbarung auf die Art des Empfangs seitens des Menschen angewiesen sei.27

Es bedarf eines Sinnes für diese Art von Einmaligkeit, für dieses Außerordentliche, welches sich da gerade „vor aller Augen“ abspielt und doch nicht als Solches vernommen wird. Gott ereignet sich gerade vor aller Augen, und wird doch nicht wahrgenommen. Die Evangelien liefern unzählige Beispiele eines solchen Geschehens. Jesus kommt, spricht und handelt, und in den Augen der Mehrheit – fast wäre man in Versuchung zu sagen: objektiv – geschieht nichts Besonderes. Für die Wenigen jedoch, die das Geschehene anders sehen und deuten, d. h. mit einer spezifischen Bedeutung versehen, spielt sich gerade das Entscheidende ab.

In diesem Sinne, im Sinne eines nicht oder nicht richtig wahrgenommenen Ereignisses ist auch der sich offenbarende Gott unsichtbar. Inmitten von uninformierten Augen, unempfänglichen Ohren und eines verschlossenen Geistes bleibt Gott unsichtbar, bleibt Gott aus, ist Gott nicht da, ist Gott nicht.

Deswegen steht im Arbeitstitel meiner Habilitationsschrift: Der „unsichtbare“ Gott, das Wort „unsichtbar“ in Anführungszeichen. Damit meine ich die zweite, gewissermaßen menschengemachte Unsichtbarkeit Gottes. In diesem Sinne ist Gott als doppelt unsichtbar zu betrachten. Zum einen ist Gott als eine geistige Realität selbstverständlich im Vergleich zu den materiellen Gegenständen und Phänomenen unsichtbar. Zum anderen jedoch, und darauf kommt es mir an, ist Gott unsichtbar, weil der seiner Offenbarung beiwohnende Mensch transzendental blind ist. Jesuanisch gesagt: Augen hat und doch nicht sieht. Nebenbei bemerkt, ist es diese Art Blindheit, man könnte sagen die Blindheit des Herzens, die Jesus durch seine Wunderhandlungen geheilt hat. Die transzendentale Blindheit des Menschen, aus der die Unsichtbarkeit Gottes resultiert, ist parallel zu denken zu der Unsichtbarkeit der MusikerInnen, die durch die musikalische Taubheit und Blindheit der Passantinnen und Passanten zustande kommt.

Wenn Gott in diesem Sinne unsichtbar ist, so könnte man von einer latenten Existenz Gottes sprechen. Diese Schlussfolgerung entspricht dem vorhin erwähnten Gedanken einer Existenz Gottes, die zwischen Sein und Nichtsein anzusiedeln ist. Gott ist zugleich da als auch nicht da – je nach der Art der Wahrnehmung bzw. der Wahrnehmungsfähigkeit. Oder müsste ich in meinem Denken noch weiter gehen? Stellen wir uns vor, niemand würde die Offenbarung und damit Gott mitbekommen – kann man dann noch von einer latenten Existenz sprechen? Der Begriff der Offenbarung impliziert die erfolgreiche Rezeption seitens des Menschen. Das heißt, eine Offenbarung, die keiner mitkriegt, ist schlicht nicht gewesen, ist keine Offenbarung. Ein Gott, den keiner wahrnimmt, ist er wirklich latent da, oder ist er nicht vielmehr gar nicht?

Oder denken wir Gott konsequent als Möglichkeit und fragen: Welchen ontologischen Status (Seinsstatus) hat die Möglichkeit? Die Wirklichkeit ist. Das Mögliche jedoch ist noch nicht. Ist es dann aber gar nicht? Oder ist der Bereich der Potentialität wirklich eine dritte ontologische Größe zwischen Sein und Nichtsein, die wir erst einmal zu denken lernen müssen. Und würde Gott dann auch der Status dieser dritten Größe zukommen?

Meine momentane Lösung des Problems verrät einiges über meine theologische Positionierung. Ich kann – oder will? - Gott nicht als einen Nicht-Seienden denken. Deswegen bediene ich mich bei der Bildung des Gottesbegriffs eines Ausdrucks Schleiermachers und bezeichne Gott als das Woher. In diesem Falle würde das heißen, Gott sei nicht das jeweilige Ereignis, sondern das Woher des jeweiligen Ereignisses der Offenbarung. Gott ist das unendliche und unerschöpfliche Woher der Möglichkeiten. Aber ob ich hierbei stehen bleibe, ist noch nicht sicher.

Die Wahrnehmung Gottes hat etwas mit Aufmerksamkeit zu tun, und diese wiederum ist eng gekoppelt an die Bedeutsamkeit. „Aufmerksamkeit schenken wir den Gegenständen, die wir deutlich unterscheiden und anderen vorziehen.“28 Also gehören Aufmerksamkeit und Bedeutsamkeit eng zusammen. Wir sehen nur das, was für uns von Bedeutung ist. Und was ist für uns von Bedeutung? Das hängt von unserer soziokulturellen Prägung ab. Während ich beim Stadtspaziergang nach Buchhandlungen und Kunstgeschäften Ausschau halte, sieht sich mein Bruder die Autos an, meine Mutter die Modegeschäfte, und meine Schwiegermutter mustert die anderen Menschen. Dabei befinden wir uns alle am selben Ort in der gleichen Stadt, und doch sieht jede und jeder sie anders. Jeder erstellt einen eigenen Stadtplan nach dem Maßstab der eigenen Relevanz.

Die Relevanz ist ein sehr plastischer Begriff. Er kommt vom lateinischen relevare, sich erheben. Das, was mir wichtig ist, erhebt sich unter der Wirkung meiner Perspektive vor dem grauen Hintergrund, während die übrigen Dinge dementsprechend zurücktreten und in diesem Hintergrund verschwinden.

Das Relevanzbewusstsein ist kulturell konstituiert und daher auch beeinflussbar. Jede Zeit und jede Kultur hat ihre eigenen Präferenzen. Die Kraft, welche unsere Bedeutsamkeitshierarchie verändern kann, nennt sich Bildung. Die Bildung vermittelt neue Maßstäbe und Werte, nach denen sich dann meine Wahrnehmung richtet.

Das bedeutet: Um Gott wieder sichtbar werden zu lassen, muss seine Relevanz überzeugend vermittelt werden. Die Sprache der Theologie und der Predigt muss so von Gott zeugen wie die begeisterte Reaktion der Passantin auf die musikalische Offenbarung der russischen Sopranistin. Die Rede der Passantin ist so authentisch und überzeugend, wie nur authentisch und überzeugend das Zeugnis eines soeben Erlebten und Erfahrenen sein kann. Auch ihr Gesicht spiegelt den Abglanz des Geschehens, die strahlenden Augen geben das Licht dessen, was sich da gerade ereignete, weiter. Ich denke unwillkürlich an Moses, der sein Gesicht verhüllen musste, weil auch er einen Abglanz der Göttlichkeit auf ihm trug.29 Wir haben es hier mit dem Phänomen der Be-geisterung zu tun.

Nur durch solche Zeuginnen und Zeugen wird das Außergewöhnliche als solches für andere sichtbar. Wir haben Gott erlebt, und davon zeugt unsere Reaktion. Sie gibt den Außenstehenden zu denken. Da ist offenbar etwas Außergewöhnliches passiert, und ich habe es nicht mitgekriegt. Warum? Was habe ich denn verpasst? Was können die, was ich nicht kann? Die da sehen aus, als ob sie gerade den Jackpot geknackt hätten, sie wirken so glücklich, so bereichert. Und ich stehe hier und wirke ihnen gegenüber so armselig. Was kann ich tun, um auch so zufrieden zu sein?

Wäre das nicht fantastisch, wenn unsere Rede von Gott diese Art von Sehnsucht auslösen würde? Eine Sehnsucht nach dem reichen, erfüllten Leben jenseits jeglicher materialistischen Geschäftigkeit. Eine Sehnsucht nach der Quelle eines solchen Lebens und nach der Fähigkeit, diese Quelle und deren Spuren überall auszumachen, ihre Offenbarung nicht zu verpassen, da wo sie sich anbietet.

In einer Offenbarung ist die Dimension der Transzendenz am Werke. Unter Transzendenz versteht die Theologie schon lange nicht mehr eine Art Hinter- oder Überwelt, aus der dann und wann Gott hervortritt und diese unsere immanente Welt besucht. Das so genannte Ende der Metaphysik bedeutete auch das Ende dieser gewissermaßen lokalen Auffassung von Transzendenz. Doch mit einem lokalen Jenseits wurde der Begriff der Transzendenz aus dem theologischen bzw. philosophischen Vokabular nicht gänzlich gestrichen. Auch hier wird um eine neue, zeitgemäße Bedeutung gerungen. Die Transzendenz ist die Dimension der Unverfügbarkeit, also diejenige Dimension der Wirklichkeit, welche von menschlichem Bestreben nicht verfügbar gemacht werden kann.

Meine Auffassung von Transzendenz ist die der Qualität. Hier ein Beispiel aus dem Bereich der Musik: Eine qualitätsvolle, beseelte und beseelende Musik ist immer mehr als die Summe der perfekt gespielten musikalischen Zeichen, und auch mehr als die Summe der perfekt ausgeführten technischen Schritte. Qualität im Sinne von Beseeltheit ereignet sich, oder sie ereignet sich trotz aller Perfektion eben nicht. Und wichtig: Sie ist auf Empfänglichkeit seitens der HörerInnen konstitutiv angewiesen. Das hat unser Beispiel überzeugend gezeigt: Für unempfängliche Ohren und Seelen gibt es sie schlicht nicht.

Das, was ich hier mit einfachen Worten beschreibe, ist sozusagen die strukturelle Skizze einer erfolgreichen Rede von Gott. Sie ist strukturell, jedoch noch nicht inhaltlich. Denn Sie können mit Recht fragen: Woher wissen wir, dass es sich bei einem solchen Begeisterungsprozess um den Gott Jesu Christi handelt?

Ja, diese Begeisterungskette ist zweifellos auch im Fußballstadion denkbar, oder bei der Kundgebung einer fragwürdigen politischen Partei. Auch da scheint der Kausalzusammenhang zwischen der Abstrahlung der Glückseligkeit und der hervorgerufenen Sehnsucht zu funktionieren. Auch ein Götze kann sich offenbaren und eine authentische Zeugenschaft ins Leben rufen.

Deswegen ist aber die aufgezeichnete Struktur nicht minder wahr. Es handelt sich um folgendes Schema: Offenbarung – authentische Zeugenschaft – Denkanstoß und Sehnsucht – eine neue Sichtweise – erhöhte Sensibilität für das begehrte Phänomen – erhöhte Relevanz des begehrten Phänomens – erhöhte Sichtbarkeit des begehrten Phänomens – Etablierung des begehrten Phänomens.

Wie ist also der Unterschied zwischen den diversen Offenbarungen auszumachen, und worin unterscheidet sich die Offenbarung des christlichen Gottes von allen anderen? Ich bin davon überzeugt: Es ist das Kreuz. Deswegen ist für mich das Kreuz unaufgebbar. Das bedeutet: Mag sich in der Kunst, in der Musik, in einer überwältigenden Natur auch eine Offenbarung ereignen, - das, was der christliche Glaube intendiert, ist die Offenbarung der Menschlichkeit. Dort, wo die Menschlichkeit im Sinne von Mitmenschlichkeit geschieht, hat sich der Gott Jesus Christi offenbart.

Diese Art von Offenbarung überragt qualitativ alle anderen, so wie die Liebe das Höchste ist. Das, was mich zu einem zufriedenen, authentischen Menschen macht, ist meine mündige Freiheit von meiner Selbstbezogenheit. Diese Haltung könnte auch in anderen Menschen die vielleicht vergessene, verdrängte, verschüttete Sehnsucht nach einem erfüllten Leben aktivieren und so das eingeschlafene Gottvermissen wach werden lassen. Das jedoch setzt voraus, dass dieses Gottvermissen noch im Menschen schlummert, noch in irgendeiner Form da ist. Wenn also das Gottvermissen etwas ist, was dem Menschen nicht genommen werden kann, weil es zum Menschsein unabdingbar dazu gehört. Aber was, wenn dem nicht so ist?

5. Abschluss und Ausblick

„Was geschieht, wenn der neue Mensch für jede transzendentale Empfindung so unempfänglich wird, dass er nicht nur der Wirklichkeit, sondern auch schon der Möglichkeit von Offenbarung entsagt? Was kann dann noch in ihm zum Schwingen gebracht werden, wenn er vom Überschreitenden nicht mehr berührt werden kann? Wenn die Rede von Gott ihm Antworten gibt auf Fragen, die er aber nicht mehr hat, wenn sie Sehnsüchte stillen möchte, die er nicht mehr verspürt, wenn sie von Befreiung spricht, während er den Unterschied zwischen Freiheit und Unfreiheit nicht mehr ausmachen kann?

Das wäre das böse Ende des Gottesfehlens: Wenn Gott schließlich nicht mehr fehlt, weil er in der endgültig gottlos gewordenen Welt nicht mal als ein vergessener vorkommt. […].

Nicht dass es jetzt, im Zustand der Gottlosigkeit, an Göttern mangeln würde. Nein, sie werden weiter ihren Konkurrenzkampf um den Menschen betreiben, und er wird ihnen weiter blind folgen, sobald das schmeichelnde Versprechen der Gottgleichheit ertönt. Aber es besteht die Gefahr, dass im bunten Treiben der machtbesessenen Gottheiten die eine Stimme verstummt: Die Stimme des Gottes, welcher sich bereit erklärte, zusammen mit uns den Weg zur Menschlichkeit des Menschen und Menschenwürdigkeit der Welt zu beschreiten. Solange uns dieser Gott noch fehlt, solange wir ihn noch vermissen, ist er noch da und mit ihm die Hoffnung auf die Heilung der Blindheit, auf die Errettung aus der Verlorenheit, auf die Erlösung vom Selbsterlösungswahn. Noch sehnen wir uns hier und da nach ihm, noch fehlt er. Gott sei Dank!“30


Weitere Literatur:


Markus Beile, GOTT UND DAS CORONAVIRUS. Ein theologischer Zwischenruf, in: DPfBl, Nr. 4/2021, 238 f.

Jörg Disse, Kleine Geschichte der abendländischen Metaphysik. Von Platon bis Hegel, Darmstadt (2001) 22004.

Hans-Peter Dürr, Es gibt keine Materie, Amerang 2012.

Markus Gabriel, Warum es die Welt nicht gibt, Berlin 92013.

Tomáš Halik, Theater für Engel. Das Leben als religiöses Experiment, (Prag 2010) Freiburg im Breisgau 2019.

Katarína Kristinová, Die verbotene Wirklichkeit, Untersuchungen zu der wirklichkeitskonstitutiven Relevanz des christlichen Offenbarungsbegriffs, Tübingen 2018.

Dorothee Sölle, Mystik und Widerstand. »Du stilles Geschrei«, Hamburg (1997) 51999.

Hartmut von Sass, Gott als Ereignis des Seins. Versuch einer hermeneutischen Onto-Theologie, Tübingen 2013.

Links zu den Veröffentlichungen

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